EIN TREUER VERBÜNDETER DES GRÖSSENWAHNS:
DAS PSEUDONYM

Von Leidenschaft und Ehrsucht getrieben: Der Schachmatador Johannes Minckwitz

Von Michael Negele

(Der Artikel ist auszugsweise wiedergegeben.
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Johannes Minckwitz
Johannes Georg Eduard Lebrecht Minckwitz (* 11. April 1843 in Leipzig; † 20. Mai 1901 in Biebrich)

Zum Einstieg soll Schachmatador Johannes Minckwitz, sich 1878 zur Schaffung eines ABC des Schachspiels und somit gewiss zu einem „Hohen Priester Caissas“ berufen fühlend, selbst zu Wort kommen: „Auch für solche, welche den Tempel Caissas […] noch mit keinem Fuße betreten haben, die sonach hinsichtlich des Schachkultus völlig Laien sind, hat diese geistreiche, anregende Spielbeschäftigung eine eigene sagenhafte Bedeutung. Ein eigenartiger Nimbus umgibt das edle Spiel, welches freilich als ein wirkliches Spiel gar nicht mehr betrachtet werden sollte und tatsächlich wird: Das Schach ist von Haus aus dem Wesen nach ein Spiel, der Form nach eine Kunst, der Darstellung nach eine Wissenschaft.“ Mit diesen hehren Worten eröffnete Minckwitz den Kleinen Schachkönig, eine 1888 von G. P. Glöckner (Leipzig) herausgegebene „leichtfassliche Anleitung zu rascher Erlernung der Schachspielkunst“. Selbst bei sorgfältiger Durchsicht dieser Anfängerfibel kann der geneigte Leser kaum erahnen, dass der Verfasser fünf Jahre später in Wien als „Irrsinniger“ in Verwahrung genommen würde.

Bereits 1764 postulierte Immanuel Kant im Versuch über die Krankheiten des Kopfes: „Ist etwa eine Leidenschaft besonders mächtig, so hilft die Verstandesfähigkeit dagegen nur wenig. Denn der bezauberte Mensch sieht zwar die Gründe wider seine Lieblingsneigung sehr gut, allein fühlt er sich ohnmächtig ihnen den tätigen Nachdruck zu geben.“ Kants Interesse galt dem „gestörten Gemüt“ und dessen drei Erscheinungsformen: der „Verrückung“ (täuschende Einbildung), dem „Wahnsinn“ (gestörte Urteilskraft) und dem „Wahnwitz“. Mit letzterem meinte Kant eine „verkehrt gewordene Vernunft“, der durchaus „richtige Erfahrungsurteile zum Grunde liegen“ können. Der Größenwahn fiel in Kants zweite Kategorie. Aus dessen Sicht ließen sich für „all diese traurigen Übel, wenn sie nur nicht erblich sind, noch auf eine glückliche Genesung hoffen“. Kants Bezeichnungen mögen heutzutage befremdlich anmuten und die Darstellung wirkt vergröbernd, doch ähneln seine Ansichten weitgehend der aktuellen Beschreibung von Geisteskrankheiten.

Die moderne Psychologie geht dabei weniger von Krankheitsbildern als von Persönlichkeitsstörungen aus. Eine früher als Größenwahn bezeichnete narzisstische Störung liegt vor, wenn sich eine Person mit Besessenheit damit beschäftigt, andere zu beeindrucken, um deren Bewunderung zu erhalten. Unbedingt ist aber diese psychische Störung von einer Charaktereigenschaft, also geringem Selbstwertgefühl, das durch Übersteigerung der eigenen Wichtigkeit ausgeglichen wird, abzugrenzen.

Verschrobene Charaktere fanden (und finden) sich in der Schachwelt zuhauf, aber bei kaum einer seinerzeit hochgeschätzten Persönlichkeit im deutschen Schach wurde deren Verrücktheit so öffentlich wie beim Leipziger Schachmeister und Schriftsteller Johannes Minckwitz. Der aus traurigem Anlass Ende Mai 1901 im Wiener Tagesblatt erschienene „Steckbrief“ legte ein tragisches, eng mit dem Schach verknüpftes Schicksal offen: „Minckwitz galt in Schachkreisen als sehr begabter, scharfsinniger und geistreicher Spieler und Theoretiker. Er überraschte durch die strenge Logik seiner Kombinationen und ersann Aufgaben, deren Lösung auch dem Geübtesten nicht leicht wurde. Leider teilte er den Größenwahn so vieler anderer Schachmatadore, ja er schien sogar noch ein Übriges zu leisten. Denn er hielt sich für den stärksten aller Spieler und seine Partner für klägliche Nichtskönner. Aber seine Luzidität (= Bewusstseinsklarheit – MN) hielt nur am Schachbrett vor; der Alltag kannte ihn nur als dürftigen, hungernden Narren, der unzusammenhängend redete, unter seinem Überrock ein mit Flittern gesticktes Prinzengewand aus Seide trug und zuletzt, wie es heißt, von Almosen lebte.“

Eine einseitige und etwas abschätzige Darstellung, die dem ab 1864 über mehrere Dekaden wirksamen Einfluss von Johannes Minckwitz auf die positive Entwicklung des Schachs in Deutschland keineswegs gerecht wird.

Jedoch war spätestens 1893 nicht nur für aufmerksame Leser des Berliner Tageblattes vom 27. September dessen psychische Störung sozusagen amtlich: „Über einen Zwischenfall, der sich am gestrigen Dienstag des Morgens bei der Einfahrt des Kaisers Wilhelm und des Kaisers Franz Joseph in den Schönbrunner Schlosshof ereignete, wird uns von unserem Wiener Korrespondenten mittels Privattelegramms Folgendes berichtet: Vor dem Stiegen-Aufgang zu den Gemächern des Kaisers Wilhelm hatte am Treppenfuß ein eben hinzugekommener unbekannter Mann Aufstellung nehmen wollen, der aber sofort verhaftet wurde. Er nannte sich Fürst Minckwitz und überreichte den Beamten eine Visitenkarte, welche auf „Johann Minckwitz, Reichsgraf von Minckwitzburg, Fürst Inkwi“ lautete; er bezeichnete sich als sächsischen geheimen Kammerherrn und behauptete, er sei zur Aufwartung beim deutschen Kaiser befohlen. Der Fremde wurde als Irrsinniger erkannt und in die psychiatrische Klinik gebracht. Wie verlautet, ist der Irrsinnige der bekannte Schachspieler Hans von Minckwitz, welcher die Schachzeitung der Leipziger Illustrirten redigierte. Er war am Sonntag in Wien eingetroffen.“ Die österreichisch-ungarische Presse gab etliche weitere pikante Details zu diesem peinlichen Vorfall preis: „Der Fremde hatte einen langen, rotblonden Vollbart, trug einen Jägerhut und einfache, abgenutzte Kleidung. Er machte den Eindruck eines ehemaligen Leibjägers. Als die Hofbeamten ihn befragten, was er wünsche, erwiderte er in grotesker Haltung, er sei – Fürst Minckwitz. […] Dabei lächelte er immer und das seltsam glanzlose, sozu­sagen stumpfe Auge rollte, sehr zum Widerspruch zu den Lächeln, unruhig hin und her.“ So die Linzer Tages-Post vom 28. September, der Pester Lloyd wusste noch hinzuzufügen: „Nächst dem sogenannten Meidlinger Tore stand ein etwa vierzigjähriger, hochaufgeschossener Mann in etwas defekter Kleidung von gewesener Eleganz, der trotz des strömenden Regens ohne Schirm auf dem Platze blieb und unruhig ausblickte. Er machte sich durch sein eigentümliches Benehmen auffällig und wurde von den Polizeiorganen ersucht, ihnen in das Amtszimmer zu folgen. […] Man eruierte bald, dass dies ein Individuum sei, das schon im vorigen Jahr zweimal wegen Irrsinns angehalten und nur seiner Ungefährlichkeit wegen auf freiem Fuße belassen wurde.“

In Wien wurde Minckwitz Mitte November 1893 auf eigenen Wunsch, aber keineswegs als geheilt, entlassen und kehrte in Begleitung eines Freundes nach Leipzig zurück. Sein Zustand besserte sich kaum, zwei Jahre später wurde er erneut als „wahnsinnig“ auffällig und musste, wie mehrere Gazetten berichteten, auf der Durchreise in Mainz ins Hospital eingeliefert werden. Wie das Deutsche Wochenschach im Nachruf (Heft 20, 26. Mai 1901) ausführte, hatte sich bei Minckwitz zusätzlich „Verfolgungswahn eingestellt, der ihn oft zu Tätlichkeiten gegen harmlose Leute veranlasste, weil er deren Unterhaltung auf sich bezog. Dabei vernachlässigte er nicht nur seine geschäftliche Tätigkeit, sondern kam auch mit Behörden, die er überdies unaufhörlich wegen seiner Adelsansprüche belästige, in Zwist […].“ Mehrmals musste der „Tobsüchtige“ an Irrenhäuser übergeben werden, so wurde Minckwitz zweimal in die Städtische Irrenanstalt Herzberge (Berlin-Lichtenberg) eingeliefert. Um die Jahrhundertwende war es zudem wirtschaftlich miserabel um ihn bestellt, vielleicht hatte er sich an der Börse verspekuliert. Verbliebene Einnahmen aus der langjährigen Tätigkeit für das Leipziger Tageblatt (ab 1869) und die Schachspalte der Illustriten Zeitung (ab 1881) gingen ihm wohl verloren. Im Wiener Neuigkeitsweltblatt wurde Minckwitz im Oktober 1900 als „fürstlicher Zechpreller“ tituliert, der im böhmischen Leitmeritz in zwei Gasthäusern die Zeche schuldig blieb. Eben der Mangel an „Subsistenzmitteln“, ein Vegetieren ohne feste Bleibe, dürfte zu jener Verzweiflungstat geführt haben, über die Ludwig Bachmann (Schachjahrbuch für 1901; Ansbach 1902, S. 224 f) mit drastischen Worten berichtete: „Am 15. Mai Abends ist der 57 Jahre alte Schachschriftsteller Hans v. Minckwitz in Biebrich von der elektrischen Straßenbahn überfahren worden. Beide Arme mussten ihm sofort amputiert werden, doch hoffte man anfänglich, dass er mit dem Leben davon kommen werde. Mitte April war Minckwitz aus dem Asyl für Obdachlose zu Frankfurt am Main nach Biebrich gekommen und hat sich dort seither in einer Herberge niedrigsten Ranges aufgehalten. […] Man fand bei ihm eine umfangreiche Eingabe an das bayerische Staatsministerium, die er von diesem zurückerhalten hatte. Auch soll er an allerlei sonstige Personen von Rang Gesuche gerichtet haben; schließlich stellte die Wiesbadener Polizei Ermittlungen über ihn an. Offenbar hatte M. seinem verfehlten Leben selbst ein Ende machen wollen und dazu die Strecke auf der neuen, noch völlig unausgebauten und von Fußgängern während der Dunkelheit kaum benutzbaren Gartenstraße gewählt. Der Wagenführer sah plötzlich so dicht vor sich auf den Schienen einen Mann sitzen, dass ein Bremsen nicht mehr möglich war. […] Die ursprüngliche Annahme, dass der Unglückliche mit dem Leben davonkommen werde, hat sich – man kann unter diesen Umständen fast sagen glücklicherweise – nicht bestätigt, indem er am 20. Mai seinen Verletzungen erlegen ist. […] In der letzten Zeit hatten sich seine persönlichen Verhältnisse so verschlechtert, dass er fast ganz auf die Unterstützung seiner Bekannten angewiesen war, und die Erkenntnis seiner Lage wird ihn in einem lichten Momente zu dem bedauerlichen Entschlusse getrieben haben.“

(Der Artikel ist auszugsweise wiedergegeben.
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