DIE KUNST DER CAMOUFLAGE

Savielly Tartakower und das unentwegte Streben, seinen eigenen Spielstil zu verschleiern.

Von Michael Negele

(Der Artikel ist auszugsweise wiedergegeben.
Den ganzen Text lesen Sie in KARL 4/12.)

Savielly Tartakover 1922
Tartakower 1922

Als Camouflage, also Irreführung, Tarnung oder Täuschung, bezeichnet man militärische Maßnahmen, das Erscheinungsbild von Individuen oder Objekten so zu verändern, dass diese im Gelände nicht oder nur noch mit Mühe erkannt werden. Der veraltete französische Begriff fand Eingang in die Sozialpsychologie und beschreibt dort eine Selbsttäuschung als Abwehrmechanismus der Psyche, um diese vor pathologischen Auswirkungen zu bewahren und innere Konflikte zu verdrängen.

Mein ursprünglicher Anspruch, Lebensweg und stilistisches Schaffen des russisch-österreichisch-polnisch-französischen Großmeisters Savielly Tartakower darzustellen, erwies sich als „unmöglicher Auftrag“. Trotz umfänglicher schriftstellerischer Hinterlassenschaft finden sich kaum aussagekräftige autobiographische Details aus der Feder dieses „gefühlten“ Weltmeisterschafts-Kandidaten. Deshalb lasse ich im Folgenden wiederholt dessen Zeitgenossen zu Wort kommen, um Lebens-, Spiel- und Schreibstil des Meisters zu konkretisieren.

Über die unterschiedlichen Stile im Schach äußerte sich Tartakower durchweg freimütig, vielleicht besonders pointiert in seinem Werkchen Führende Meister. 23 Schachindividualitäten in ihrem Wirken und Streben, das 1932 als Band 3 der Bücherei der Wiener Schachzeitung erschien. Dort heißt es unter anderem: „Alle Kampfstile sind gut, außer dem selbstgefälligen. – Denn die Wahrheit wird von uns nie geschaffen, sondern höchstens erkannt.“ Und: „Die Hauptschwierigkeit des Schachs besteht nicht in der Variantenanhäufung, sondern in der persönlichen Färbung des Kampfes.“

Richard Réti, sein Schachschüler (So betitelte Tartakower – vermutlich mit ironischem Unterton – in seiner Hypermodernen Schachpartie den nur zwei Jahre jüngeren Verfasser der 1921 in Wien erschienenen Neuen Ideen im Schachspiel. Folgt man dem Lehrmeister, eine bahnbrechende Publikation, „die die gesamte Schachwelt von Grund auf revolutionierte und seitdem im Unterbewußtsein fast aller schachdenkenden Kreise tiefe Wurzeln faßte.“), charakterisierte den „größten Gegner aller Schablone“ in seinem posthum erschienenen Hauptwerk Die Meister des Schachbretts mit kritischen Abstand:

„Die Hoffnungen, welche die Schachwelt (…) auf ihn setzte, sollte er jedoch zunächst nicht erfüllen. Erst nach dem Kriege gelang es ihm, Erfolge zu erringen, welche ihn in die Reihe der führenden Meister stellen. (…) Tartakower ist übrigens ein äußerst vielseitiger Mensch, er ist nicht nur Doktor der Rechte, Schachmeister und äußerst produktiver Schachautor, er hat auch als Literat und Filmautor und besonders als Uebersetzer moderner russischer Dichtung ins Deutsche und ins Französische Wertvolles geleistet. Durch seinen Esprit, der sich gerne in Aphorismen und Paradoxen äußert, macht er zunächst auf jedermann einen bestechenden Eindruck. Dann pflegt man kritisch ernüchtert zu werden, da man hinter all dem glänzenden Geistesgefunkel Oberflächlichkeit wittert. Aber schließlich muß man erkennen, daß Tartakowers schwer faßbares wahres Wesen, die reale Grundlage seiner Erfolge doch in einer bewundernswerten Arbeitskraft besteht, in einem unermüdlichen Suchen nach Wahrheit, um den angeborenen und immer durchbrechenden Skeptizismus zu bekämpfen, Dieser Zwiespalt ist die Ursache seiner berühmten und berüchtigten Paradoxe.“

Tatsächlich trat Tartakower erst 1924 – sieht man von Am Baum der Schacherkenntnis (Mai 1921), einer Sammlung von zuvor verstreut veröffentlichten Schachaufsätzen, ab – mit einem wahren „Flächenbombardement“ eröffnungstheoretischer Abhandlungen in Erscheinung. Mehr dürfte ihm der 1923 im Verlag „Renaissance“ erschienene Gedichtband Das russische Revolutionsgesicht am Herzen gelegen haben. Diese „Anthologie zeitgenössischer russischer Dichtungen“ wurde von Tartakower ins Deutsche übertragen und mit der über 30seitigen Einleitung „Im Zaubergarten der russischen Poesie“ versehen. Allein schon das scharlachrote Titelblatt von Karl Lamparski mit lodernder Fackel über zu einem Hügel aufgeschichteten Totenschädeln verleiht dem Büchlein besondere Attraktivität.

Doch die Schachwelt nahm eher Die Zukunftseröffnung (Das Zukertort-Réti-System in neuester Beleuchtung) oder Indisch (Aus der Werkstätte einer Eröffnung) – seinen (O-Ton Tartakower) „Baedeker für Indienforscher“ zur Kenntnis. Beide Broschüren geben aufschlussreich Auskunft über Schachauffassung und Schreibstil des Modernisierers. Wer erkennt hier nicht sofort die „Essenz“ des Réti-Systems: „Wir wohnen eben der Geburt einer neuen Eröffnungsstrategie bei: die Flügel werden mobilisiert, die Mitte bleibt nach Möglichkeit intakt, um jedoch beim geringsten Nachlassen des Gegners loszubrechen. Je verzwickter und befremdender für die unschuldsvollen Schachgemüter der Eröffnungsverlauf aussieht, umso schöner und geistreicher pflegen dann die Entspannungen des Mittelspieles zu wirken und den nachträglichen Eindruck streng harmonischer Partieführung zurückzulassen. Der hypermoderne Gedanke siegt! …“ Typisch „Indisch, Marke Ta(r)ta“ ist z.B.: „Das klingt geheimnisvoll, soll es auch, um die mystische Tatsache zu kennzeichnen, daß plötzlich aus einer schlechten Eröffnung ein gute wurde; daß, wie durch ein Wunder, aus der verpönten Verrammelungsstrategie ein wohlgeordnetes, an aggressiven Wendungen von Schwarz überreiches Spielsystem entstand.“

Tartakower 1933


Sein schachliterarisches Glanzstück, Die hypermoderne Schachpartie, sollte unmittelbar folgen, doch die Veröffentlichung bedeutete zugleich einen Wendepunkt in Tartakowers kurvenreichem Lebensweg. Angeblich im Groll über seinen Verleger Akim Lewit verließ er Wien im Herbst 1924, das mit höchster Akribie erstellte Werk, gewiss eine Herzensangelegenheit, wurde danach nie mehr inhaltlich überarbeitet. Dabei hatte der „schachergraute und dabei humorverklärte Autor“ (laut Vorankündigung des Verlages) folgendes angestrebt: „Wiederaufbau der widerspenstigen Schachtheorie für den vorwärtsstrebenden Schachjünger! Dazu eine Fülle von Neuerungen und Anregungen für die Meisteraspiranten! Durchleuchtung aller wichtigen strategischen Fragen und Charakterisierung aller führenden Schachgrößen in glänzend geschriebenen Essays für jeden, der mit offenen Augen in der Schachwelt umherschreiten will! Prächtiges Sammelwerk aller wichtigen Partien und Endspiele aus den letzten zehn Jahren in sorgfältigster und eigenartigster Glossierung – alles humorvoll und plastisch, leicht faßlich und fesselnd, ermunternd und nie ermüdend: Wer dieses Buch in die Hand nimmt, wird es wie einen spannenden Roman zu Ende lesen und ob er will oder nicht die Meisterstufe erklimmen müssen!“

Diesen stilistischen Rundumschlag der Hyperlative über den global-galaktischen Mikrokosmos auf 64 Feldern „kartographierte“ Alfred Brinckmann im Schach-Echo vom 20. Februar 1956 so:

„(…) ein ungewöhnliches Buch, für das sich ein Gegenstück in der Schachliteratur nicht findet. Kraus und tiefsinnig zugleich, mehr rhapsodisch und epigrammatisch als systematisch und wissenschaftlich angelegt, dabei ein ungeheures Material umfassend. (…) Und dann der Stil! Tartakower hatte eine Vorliebe für Paradoxa, für Superlative, für spitzbübische Sarkasmen und kühne Wortbildungen, ohne dabei jemals die Grenze des guten Geschmacks zu überschreiten. Sein Stil ist ganz persönlich und unverwechselbar. Trotz aller geistigen Seiltänzerei verbarg sich jedoch bei Tartakower hinter blendenden Formulierungen eine tiefernste Natur, die immer rastloser Weiterarbeit an sich und seinen Werken zugetan war.“

Tartakower schrieb immens viel über Schach, aber selbst hinter dem vielversprechenden Titel Tartacover vous parle (Paris 1953) – eine als schachphilosophisches Vermächtnis angelegte Partien­sammlung, deren Titel vielleicht passender mit Also sprach Tartakower … übersetzt wäre – verbirgt sich kaum eine Aussage persönlichen Inhalts. Zu meinem Glück gab das Subjekt meiner Bemühungen der schwedischen Tidskrift för Schack in den Jahren 1947 bis 1953 einige wenige persönliche Aspekte preis.

Die Wiener Schachzeitung 1907 stellte den Zwanzigjährigen als „stud. jur. an der Wiener Universität, (…) ein verwegener und listiger Gesell“, vor, der am 21. Februar 1887 (also dem 9. Februar des julianischen Kalenders) geboren sei. Mehr Details bot die Deutsche Schachzeitung im Januar 1918, danach kam Savielly (Xavier/Ksawery) Grigoriewitsch Tarta­kower als Sohn des österreichischen Kaufmanns Hermann Tartakower im südrussischen Rostow am Don zur Welt, seine Mutter war angeblich Polin. Die Eltern betrieben nachweislich bis 1907 das Kaufhaus Konkurrenzia. Die Familie Tartakower hatte eindeutig jüdische Wurzeln, gemäß Hans Kmoch (d.h. dessen recht launigem Nachruf auf Tartakower im Chess Review 1956) war diese im zaristischen Russland aus Gründen sichtbarer Assimilation zwar nicht zur russisch-orthodoxen Kirche, doch immerhin zum Calvinismus konvertiert.

Warum die erwähnte Partiesammlung (und spätere Übersetzungen) den 22. Februar als Geburtstag nennen, lässt sich nicht ergründen. Tartakower selbst nahm es damit auch nicht sonderlich genau, denn im Bulletin Nr. 13 der Fédération Française des Echecs vom 15. Januar 1925 wurde sein Geburtstag auf den 23. Februar 1887 datiert. Selbst für Tartakowers Sterbetag (Am Abend des 5. Februar 1956, einem Sonntag.) bieten sich dem deutschen Schachfreund Alternativen, nämlich der 4. Februar (so die Deutsche Schachzeitung) oder der 6. Februar (so das Schach-Echo).

Tartakower 1946


Wahrscheinlich stammte die in Russland durch das strebsame Wirtschaften des Vaters zu beträchtlichem Wohlstand gekommene Familie Tartakower ursprünglich aus Ostgalizien. Tartakowers Großvater mütterlicherseits reüssierte als erfolgreicher Börsenspekulant, vielleicht wurde diese Spielernatur auf den Enkel vererbt. Bereits im sechsten Lebensjahr wurde eher zufällig dessen Begeisterung für das Schachspiel durch Vater und Onkel geweckt, diese Konstellation mag bekannt klingen. Fast 60 Jahre später veranlasste diese Episode den greisen Großmeister zu drei ironischen Bekenntnissen, vor allem der vom Vater erhaltene Silberrubel zeigte nachhaltige Wirkung:

„1) Von Beginn meiner Karriere galt ich als Genie.
2) Das von Erwachsenen so ernsthaft betriebene „Spiel mit Püppchen“ bot mir Anreiz und Verzückung.
3) Schon mit sechs Jahren hatte ich das Zeug zum Berufsschachspieler.“

Doch erst der Zehnjährige erlernte gemeinsam mit der ein Jahr älteren Schwester Sylvia und dem ein Jahr jüngeren Bruder Arthur vom über alles geschätzten Vater systematisch die Spielregeln des Schachs. Der wackere Schachliebhaber vermittelte seinen Kindern den Eindruck eines Weltklassespielers, denn immerhin hatte er Wilhelm Steinitz während dessen Wettkampf mit Schiffers in Rostow aus der Ferne gesehen …

Diesen Nimbus konnte Tartakower senior nicht sehr lange wahren, denn wohl ab 1903 setzte der sechzehnjährige Savielly seine in Rostow am Don begonnene höhere Schulausbildung am Collège de Genève fort. In den Sommerferien erprobte der Junior seinen wachsenden Schachverstand am Vater, der Gewinnpartien jeweils mit fünf Rubel honorierte und damit der „beste Kunde“ des heranwachsenden Meisterspielers war. Denn in Genf widmete sich Savielly Tartakower neben schulischer Ausbildung vor allem dem Wettstreit mit den dortigen Schachgrößen im „Cafe de la Couronne“. Nach Erledigung der Pflichtübungen eilte der Schüler am Nachmittag in den Schachklub. Insbesondere beeindruckte ihn, wenn einem russischen Chemiker namens Prof. Lyon, der Savielly unter seine Fittiche genommen hatte, vom Genfer Meister, dem „starken Theoretiker“ und Fernschachspieler Henri Guyaz, Lektionen erteilt wurden.

(Der Artikel ist auszugsweise wiedergegeben.
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