INNENEINSICHTEN
Von Harry Schaack
Garry Kasparov on Modern Chess, Part 2:
Kasparov – Karpov 1975-85,
incl. the 1st and 2nd match,
Everyman: London 2008,
Hardcover, 424 S.,
33,90 Euro
(Das Belegexemplar wurde freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)
Zu den faszinierendsten Epochen der Schachgeschichte gehört die K&K-Ära. In der 2. Hälfte der 80er Jahre trafen Kasparow und Karpow in fünf WM-Matches aufeinander. Niemals zuvor maßen sich zwei etwa gleichstarke Ausnahmespieler über einen so langen Zeitraum hinweg, spielten so viele bedeutende Partien gegeneinander und boten so viel Spannung. Kasparow wäre vielleicht nie so „groß“ geworden, hätte er nicht in Karpow einen kongenialen Kontrahenten gefunden.
In der Reihe Garry Kasparov on Modern Chess wirft der ehemalige Weltmeister in drei geplanten Bänden einen Blick auf all seine Partien gegen seinen großen Antipoden. Nun ist Teil 1 erschienen, der sich mit den ersten beiden WM-Matches 1984-85 beschäftigt.
Im Vorwort weist Kasparow darauf hin, dass bei einem Gesamtmatchergebnis von +21, -19, =104 zu seinen Gunsten kaum ein Leistungsunterschied bestand. Allerdings versäumt er es auch nicht, darauf hinzuweisen, dass er jeder Zeit in der Lage war, die entscheidenden Partien zu gewinnen. Und das bedeute mehr, als alle Statistik von Erfolgen und Niederlagen.
Das legendäre auf sechs Siege angesetzte erste Aufeinandertreffen begann mit einem 4:0 für Karpow nach nur neun Partien, wonach alle ein schnelles Ende erwarteten. Nach 17 folgenden Remisen erreichte der Titelverteidiger gar das 5:0, blieb dann aber die letzten 21 Partien sieglos. Als Kasparow schließlich hintereinander zwei Partien gewann und auf 3:5 verkürzte, schien Karpow nervlich am Ende, ausgezehrt von einem fünf Monate währenden Kampf. FIDE-Präsident Campomanes, der ein Freund Karpows war, brach daraufhin in einer höchst umstrittenen Entscheidung das Match ab. Die Neuauflage gewann Kasparow mit 13:11 und wurde neuer Weltmeister.
Neben der Beschreibung der psychologischen Begleitumstände stehen die fantastischen Analysen, die Kasparow allesamt mit leistungsstarken Computerprogrammen überarbeitet hat, im Mittelpunkt des Buches. Der 13. Weltmeister bemüht immer wieder Material aus jenen Tagen, bietet Einblick in damalige Vorbereitungen und Heimanalysen und vergisst nicht, auf den enormen Einfluss hinzuweisen, den die Matches auf die Entwicklung der Theorie in den Vorcomputer-Achtzigern hatte. Was die Lektüre aber so mitreißend macht, sind die authentischen Hintergrundberichte und Gefühlsbeschreibungen.
Kasparows Matchbewertungen sind sehr selbstkritisch. Er räumt ein, dass 1984/85 seine Technik der Chancenverwertung noch nicht eines Champions würdig war und dass er zu Beginn des Wettkampfes seinem Gegner in Endspiel und Strategie unterlegen war. Karpow gelang es mehrfach, ihn in Stellungen zu locken, in denen sein impulsiver Stil fast zwangsläufig zu Fehlernführte.
Psychologisch war das 1. Match für beide eine Ausnahme-Erfahrung. Kasparow beschreibt eindringlich die Marter, als er vor dem Abgrund eines 6:0 stand. Man kann sich kaum klar machen, was es schon für einen Spieler wie Karpow bedeuten musste, selbst eingedenk seines großen Vorsprungs, 21 Partien hintereinander keinen vollen Punkt zu machen. Nicht zu reden vom jungen, erfolgverwöhnten und übermütigen Kasparow, der in einer Durststrecke von 31 sieglosen Partien in 93 Tagen Demut lernte. Ein Wettkampf über fünf Monate, bei dem die meiste Zeit Stagnation herrscht, verändert einen Menschen. Das Gesichtsfeld verengt sich mehr und mehr, der Fokus ist nur noch auf eine einzige Person, den Gegner, gerichtet. Dazu wird die soziale Isolation immer unerträglicher und Lethargie schleicht sich ein, weil das Ende des Unterfangens nicht absehbar ist.
Nach dem Abbruch ging Kasparow ermutigt in den zweiten Wettkampf. Das enorme Partienmaterial des ersten Matches war die Basis für die Weiterentwicklung des Herausforderers. Während Karpow das reichhaltige Material nicht objektiv und tief genug analysiert hatte, lernte Kasparow seine verwundbaren Punkte zu schützen. Während er eine neue Matchstrategie entwickelte, die ganz auf den Geschmack und den Stil des Gegners abgestimmt war, hatte Karpow keinen radikalen neuen theoretischen Ansatz zu bieten. Karpows Abneigung gegenüber ernsthafter Analyse und der Glaube, vor allem Praxis bringe einen voran, war ausschlaggebend für seine Niederlage. Einzig seine außergewöhnliche Technik kompensierte lange Zeit seine schlechte Vorbereitung. Am Ende siegte der modernere Zugang zum Schach. Karpow zog seine Schlüsse und ging in das 3. Match mit einem konsolidierten Eröffnungsrepertoire. Aber das ist schon der Stoff des nächsten Bandes.