„EINE ERÖFFNUNG DES 21. JAHRHUNDERTS“

Wenige Tage nach seinem Triumph in Bonn hatte KARL Gelegenheit, mit Weltmeister Vishy Anand ein Interview über den Wettkampf zu führen.

(Das Interview ist folgend auszugsweise wiedergegeben.
Den ganzen Text lesen Sie in KARL 4/08.)

Vishy Anand WM 2008 01
(Foto: Harry Schaack)

KARL: Zunächst meine Gratulation zu Ihrer Titelverteidigung. Es muss aus Ihrer Sicht ein fast perfektes Match gewesen sein.
VISHY ANAND: Fast. Für die ersten sechs bis sieben Partien stimmt das. In der ersten Hälfte dominierte ich deutlich und alles lief zu meinen Gunsten. Ich konnte meine Neuerungen stets zuerst anbringen und Wladimir mit meinen Systemen überraschen. Es war sehr wichtig, in den Partien 3, 5 und 6 nicht nur gute Stellungen zu bekommen, sondern „alle“ zu gewinnen. Ab der 8. Partie fand Kramnik seinen Rhythmus und machte eine Menge Druck. Er gewann zwar nur die 10. Partie, hatte aber gute Chancen in der 8. und 9. Der Trend des Matches kehrte sich um, aber ein 3-Punkte-Rückstand ist bei einem so kurzen Wettkampf kaum noch aufzuholen.

Glauben Sie, dass 1.d4 ein psychologischer Erfolg war?
Ja, aber ich denke, hauptsächlich für mich. Ich wollte neue Stellungen spielen und in neue Richtungen denken. Gegen Wladimirs Schwarzrepertoire rechnete ich mir mit d4 mehr Chancen aus. Ich denke nicht, dass 1.d4 für ihn eine wirklich große Überraschung gewesen ist. Aber er hat bestimmt nicht damit gerechnet, dass ich – mit Ausnahme der letzten Partie – „nur“ 1.d4 spiele. Selbst wenn er d4 antizipiert hat, musste er auf jeden Fall ¼ der Zeit für die Vorbereitung auf e4 widmen. Durch meine Eröffnungswahl habe ich ihn gezwungen, etwa einen Monat Arbeit zu verschwenden.
Andererseits hat er mit dem d4-System natürlich viel mehr Erfahrung als ich. Es ist also nicht leicht, Druck auf ihn auszuüben. Und tatsächlich gewann ich eine Partie mehr mit Schwarz als mit Weiß. Das Meraner System war der größere Erfolg.

Welche Bedeutung hat dieser Match-Erfolg für Sie?
Wladi in einem Match zu besiegen, ist natürlich „groß“. Und ihn so deutlich zu schlagen, ist etwas Besonderes.

Wie lange haben Sie sich auf das Match vorbereitet?
Ende letzten Jahres machte ich mir erste Gedanken dazu. Ernsthaft zu arbeiten begann ich im April. Jeden der folgenden Monate war ich mindestens drei Wochen mit der Vorbereitung beschäftigt. Im September wurde meine Arbeit durch das Grand Slam Finale in Bilbao unterbrochen. Danach kam Magnus Carlsen zu mir nach Madrid und wir verbrachten einige Tage zusammen. Mit ihm habe ich noch etwas Praxis vor dem Match gesammelt. Ich spielte mehrere d4-Partien mit ihm. Das war sehr hilfreich.

Was glauben Sie, wie viel Kramnik über Ihre Sekundanten wusste?
Ich glaube, den einzigen Sekundanten, den er nicht auf der Rechnung hatte, war Radoslaw Wojtazcek. Andererseits dachte er vermutlich, dass Magnus einer meiner Hauptsekundanten werden würde. Das war gut.

Hat Sie Kramnik mit seiner Sekundantenwahl verblüffen können?
Für mich war Leko eine Überraschung, ich dachte eher an Karjakin.

Können Sie etwas mehr darüber sagen, welche Aufgaben Ihre Sekundanten im Einzelnen hatten?
Im Vorfeld kann man nicht wie ein Manager einfach die Aufgaben verteilen. Ich habe nicht gesagt, Du musst das machen, Du dies. So funktioniert das nicht. Wir haben alle gemeinsam an den Aufgaben gearbeitet.

Vishy Anand WM 2008 03
(Foto: Harry Schaack)


Was war wichtig für Ihre Sekundantenwahl?
Die Hauptsache ist, dass alle gut miteinander auskommen, damit sie über einen langen Zeitraum hinweg motiviert bleiben. Wir haben so viele Stunden miteinander verbracht und gearbeitet. Selbst das Fitness-Training absolvierten wir gemeinsam. Wir haben sehr gut harmoniert. Wenn man dabei keinen Spaß hat, ist das Unternehmen von vornherein zum Scheitern verurteilt. Der „menschliche“ Aspekt ist ganz wichtig bei der Wahl der Sekundanten.

Es schien nach den ersten sieben Partien, als hätten Sie Kramnik „auspräpariert“.
Im Prinzip stimmt das. Aber in einem solchen Match bedeutet „auspräparieren“, den Gegner besser einzuschätzen als umgekehrt. Kramnik war wahrscheinlich nicht schlechter vorbereitet als ich, aber ich habe meine Stellungen aufs Brett bekommen. Er erwischte mich nur einmal voll mit seiner Vorbereitung, als er mich in der 10. Partie mit einer großartigen Neuerung konfrontierte.

Welche Stellungen haben Sie anzustreben versucht?
Ich habe vor allem nach Stellungen gesucht, die ich mag, und weniger darauf geachtet, was ihm nicht liegt.

Die Stellungen, die Sie angestrebt haben, sind sehr schwer zu verstehen, weil sie sehr „disharmonisch“ sind und viele positionelle und taktische Aspekte vereinen. Ist das „modernes“ Schach, solche Stellungen zu finden?
Ja, dem kann ich zustimmen. Stellungen wie die in der dritten und fünften Partie sind unmöglich ohne Computereinsatz zu spielen. Dieses System ist ein gutes Beispiel dafür, wie man harmonisch mit dem Computern zusammen arbeiten kann. Hinter der Meraner Variante verbirgt sich ein sehr interessantes Konzept. Es ist eine echte Eröffnung des 21. Jahrhunderts.

Waren Sie überrascht, dass Kramnik in der ersten Partie die harmlose Slawische Abtauschvariante wählte?
Nein. Es ist in einem Match normal, erst einmal Informationen abzurufen. Man will wissen, welche Eröffnung der Gegner vorbereitet hat. Dann spielt man eine sichere Partie und schaut zuhause genauer nach.

Aber ist eine solche Taktik bei einem kurzen Match über nur zwölf Partien gerechtfertigt?
Zwölf Partien sind keine so schlechte Distanz. Man darf nicht vergessen, dass Wladi nicht oft verliert. Die Abtauschvariante im Slawen hat zwar eine harmlose Reputation, aber so einfach ist es nicht. Es ist eine Eröffnung wie jede andere. Auch wenn man die Botwinnik-Variante oder Anti-Moskauer spielt, erreicht man normalerweise „nur“ ausgeglichene Stellungen. Es ist nicht notwendig, die schärfste Variante zu wählen, um dem Gegner Probleme zu stellen.

In der 2. Partie erreichten Sie einen Vorteil, konnten ihn aber wegen mangelnder Zeit nicht realisieren …
Das stimmt nicht wirklich. Ich habe vorher schon ein wenig ungenau gespielt. Und dann, das ist richtig, lief mir die Zeit davon. Während der Partie dachte ich, ich bekomme die Bauern mit langsamen Manövern, aber das ist nicht möglich. Ich war nicht sehr enttäuscht danach.

Vishy Anand WM 2008 02
(Foto: Harry Schaack)


Wie lange arbeitete Ihr Team an der Neuerung in der Meraner Variante, die in der 3. und der 5. Partie zur Diskussion stand?

Schwer zu sagen. Wir haben uns die Stellung zwei Tage intensiv angesehen, dann haben wir uns anderen Dingen zugewendet und sind später noch einmal eine knappe Woche darauf zurückgekommen.

Ihr Sekundant Rustam Kasimdschanow soll wichtige Impulse für diese Variante gegeben haben.
Das ist richtig. Mir kam die Idee im April. Dann sprach ich mit Rustam und fragte ihn, ob er mein Sekundant werden wolle. Ich erzählte ihm von der Neuerung und er sagte, er habe auch schon daran gearbeitet. Das ist eine gute Gelegenheit, mit der Zusammenarbeit zu beginnen, erwiderte ich. Wir tauschten unsere Analysen aus – und es stellte sich heraus, dass seine zehn Mal ausführlicher waren als meine. (lacht)

In der großartigen 3. Partie sammelten sie die Früchte Ihrer Vorbereitung ein. Ich denke, Ihre Neuerung führt nicht nur zu einer neuen Variante, sondern zu einem ganz neuen System.
Ja. Dieses Abspiel wurde bisher sehr selten angewendet und unsere Partie war die erste auf Top-Niveau. Es ist erstaunlich, dass es immer noch Bereiche in der Eröffnung gibt, in denen man sehr viel entwickeln kann.

Hatten Sie damit gerechnet, dass sich Kramnik in der 5. Partie noch einmal auf diese Variante einlassen würde?
Es gibt hier nur zwei Strategien: Die Eröffnung zu wechseln oder dabei zu bleiben. Beide Strategien sind im Schnitt genauso erfolgreich. Niemand würde Kramniks Entscheidung kritisieren, wenn er die 5. Partie nicht verloren hätte. Er hat bestimmt selbst einige gute Ideen zu der Stellung gefunden. Und man könnte mir mit demselben Recht die Frage stellen, ob ich dieselbe Variante noch einmal hätte spielen sollen. […]

(Das ganze Interview können Sie in KARL 4/08 lesen.)