Harry Schaack

EDITORIAL

LIEBE LESER,

Musik wie Schach ruhen auf ähnlichen Fundamenten. Man könnte sagen, Musik ist die Übersetzung von Mathematik in menschliche Emotionen – und das Zusammenspiel der Figuren beim Schach eine Wiedergabe der Mathematik in harmonische Strukturen. Der abstrakte Zusammenhang zwischen beiden ist nicht leicht zu fassen. Doch es ergeben sich viele Berührungspunkte in der Kulturgeschichte der beiden anspruchsvollen Spielformen der Unterhaltung, wie Hans Holländer in seiner Einführung zeigen kann. Der Kunsthistoriker würdigt in seinem Überblick auch die kulturelle Vielfalt zweier „verwandter“ Gebiete.

In der Musikwelt gibt es zahlreiche „Belege“ für eine Affinität zum Schachspiel. Interessant werden allerdings die „Begegnungen“ beider Welten erst dann, wenn sie von einer zufälligen Leidenschaft zu einem konstituierenden Moment werden. Mehrere berühmte Jazzer haben ihre Plattenkonzepte ganz dem Spiel der 64 Felder gewidmet und die Bandmitglieder von Abba haben das Musical Chess ersonnen. Aber auch in der Klassik gibt es viele fruchtbare Annäherungen. So kann Ernst Strouhal anhand von Arnold Schönberg zeigen, dass das Schachspiel weit mehr als eine „spielerische“ Bedeutung im Oeuvre des Erfindersder Zwölftonmusik hatte. Für Schönberg werden Spiele zu einem Raum, in dem man nach eigenen Regeln spielt. Auch die Kreation seines „Bündnis- oder Koalitionsschachs“ lotet sein eigenes Wirken zwischen Determinismus und künstlerischer Freiheit aus.

Der vielleicht berühmteste Schüler Schönbergs war John Cage. Ein vielfältiger Künstler, der die Musik radikal gedacht hat und in seinen Stücken zuweilen gar die Klänge verschwinden lässt. Er war mit vielen Protagonisten der Moderne befreundet. Seine Passion für das Spiel auf den 64 Feldern teilte er mit seinem „Lehrer“ Marcel Duchamp, mit dem ihn mehr verband als nur das Schachspiel, wie der Musiker Juan Maria Solares zeigt.

Nicht nur in der obersten Etage der Musiker findet man viele Anhänger Caissas, sondern auch umgekehrt, wenngleich nicht in dieser Häufung. Besonders die Klassik scheint einige Parallelen zum Schach zu bieten. Der berühmteste Vertreter unter ihnen ist zweifellos Mark Taimanow, der die seltene Gabe besaß, in zwei Disziplinen Weltklasseniveau zu erreichen. Als Schachspieler gewann er die sowjetische Landesmeisterschaft und spielte im Kandidatenmatch um die Weltmeisterschaft. In Erinnerung geblieben ist er wegen seiner 0:6 Niederlage gegen Bobby Fischer, nach der er als Strafe einige Zeit Berufsverbot erhielt. Er war damals froh, dass ihm die Musik geblieben ist. Mit seinen Klavierduetten begeisterte er mit seiner Partnerin Ljubow Bruk die Massen. Das Duo zählt zu den besten des 20. Jahrhunderts. Im Interview mit KARL berichtet der Leningrader über die Liebe zu seinen beiden Leidenschaften. Wie nah für ihn beide Bereiche sind, zeigt er anhand einer aufschlussreichen Zuordnung der Schachweltmeister zu musikalischen Koryphäen.

Neben Taimanow haben es auch der ehemals Weltranglistendritte Lajos Portisch und Emil Sutowski weit gebracht im klassischen Fach. Mit ihren Arien und Liedern stehen beide oft auf der Bühne. Im Gespräch mit KARL diskutierten sie die Bedeutung von Harmonie, Inspiration oder Stil.

Bleibt noch der Wunsch, dass dieses Heft zu einem harmonischen Jahres-“Ausklang“ unserer Lesern beitragen möge.

Harry Schaack