ZUG UM ZUG VON SISSA ZU DEEP FRITZ

Von Thomas Huth

Zug um Zug Ausstellungsplakat

Zug um Zug.
Schach – Gesellschaft – Politik,
1.11.2006 – 11.2.2007
im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
Bonn, Di – So 9 – 19 Uhr,
Eintritt frei,
Infos: Tel.: 0228-91650,
www.hdg.de

1300 Jahre Schach, Gesellschaft und Politik auf 160 Quadratmetern! Kann das gelingen? Dem Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn ist es gelungen, wenn man’s nicht zu genau nimmt. Passionierte Schachspieler werden das vielleicht tun, aber gerade sie sind nicht die Zielgruppe dieser Ausstellung. Ein möglichst breites Publikum soll auf eine Reise mitgenommen werden, die bei den legendären Wurzeln des Schachs in der indischen und arabischen Welt beginnt und mit dem Ausblick auf die Zukunft von Spiel und Spieler endet, der gegen Fritz und Kollegen keine Chance mehr haben wird, wie es die Niederlage Kramniks unmissverständlich gezeigt hat. Bricht damit generell für die Menschen ein Zeitalter an, in dem sie immer mehr Aufgaben den „elektronischen Freunden“ überlassen werden, deren Überlegenheit sie auf immer mehr Feldern, die vorher der menschliche Geist allein beackert hat, anerkennen müssen? Das könnte schneller Realität werden als viele glauben, zeigt doch die Ausstellung sehr eindrücklich, dass Schach nie nur ein Spiel für wenige Enthusiasten oder Leibesübungsmuffel sondern immer auch ein Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen war. Schon die Entstehungslegenden des Schachs verdeutlichen die besondere Stellung des Spiels in der Gesellschaft. So soll der indische Weise Sissa das Spiel für seinen König ersonnen haben, um ihm auf unterhaltsame Art über seine und seiner Untertanen Pflichten aufzuklären – das Schachspiel als abstrahierendes Abbild der höchst komplexen Beziehungen der unterschiedlichen Kräfte einer Gesellschaft. Von Beginn an war Schach stärker als alle anderen Spiele mit Symbolkraft versehen, und wurde aus diesem Grunde besonders gerne an den Höfen Europas und des vorderen Orients gespielt – Könige spielten mit Königen König gegen König! Hier setzt die Bonner Ausstellung ein und nutzt diese Prämisse als roten Faden auf dem Weg durch die Geschichte des Schachs und vor allem der Schachspieler. Der Beginn im 7. und 8. Jahrhundert lässt sich natürlich nicht mit originalen Exponaten belegen, Quellenzitate und Faksimiles illustrieren die vagen Anfänge und die Folgegeschichte bis weit ins Mittelalter. Dass in diesen Zeiten nur die Mächtigen ihre geistigen und psychischen Kräfte auf den 64 Feldern maßen, belegen die zahlreichen Miniaturen in den Prachtbüchern der Zeit, sei es der Codex Manesse oder das Buch der Spiele des Königs Alfons von Kastilien aus dem 13. Jahrhundert. Fast immer wird das Spiel als Ausgangspunkt für Meditationen über das Wesen der Gesellschaft, des Lebens oder des Glücks benutzt, selten geht es um das Spiel selbst. Kein Partieverlauf ist aus jener Zeit überliefert, das konkrete Spielgeschehen scheint die Zeitgenossen kaum interessiert zu haben – Schach war eben noch kein Turnierspiel, geschweige denn ein Sport. Und die zahlreichen Abbildungen, die Partien zwischen Mann und Frau zeigen, haben nicht das Spiel zum Gegenstand sondern den üblichen Minnebetrieb.

Mit der Renaissance, dem Humanismus und der Erfindung des Buchdruckes im 15. Jahrhundert beginnt auch das erstarkte Bildungsbürgertum Schach zu spielen. Die Regeln des Spieles ändern sich, die Reichweiten von Dame und Läufer nehmen zu – Schach wird dynamischer, wie auch die Gesellschaft dynamischer wird. Gezeigt wird dazu unter anderem das erste deutschsprachige Schachlehrbuch Das Schach- oder Königs-Spiel von 1616. Der Allegoriecharakter des Schachs für Gesellschaft und Politik wird weiter gepflegt. In späteren Zeiten von Aufklärung und Revolution wird das Spiel sogar in den Dienst der Propaganda genommen. Schachfiguren erhalten mitunter erkennbare Gesichter. So konnte man auf dem Brett eine Schlacht zwischen dem „Alten Fritz“ und Napoleon als Korrektur der Geschichte ausfechten.

Das Aufkommen der Massengesellschaften im Industriezeitalter verändert wiederum Gesellschaft und Spiel. Schach wird Turniersport und von allen Schichten gespielt. Es beginnt nun der Kampf um die Spieler, sie sehen sich bald ideologischen Vereinnahmungsversuchen ausgesetzt. Das 19. Jahrhundert erlebt die Gründungswelle bürgerlicher Schachvereine, das 20. steuert programmatische Arbeiterschachvereine bei. Die siegreiche Revolution führt in der Sowjetunion zu einer staatlich geförderten Schachkultur zwecks Veredelung des sozialistischen Menschen. Im nationalsozialistischen Deutschland wird „arisches Schach“ verordnet und das Spiel als „geistiger Wehrsport“ für die Jugend missbraucht. Gleichzeitig ist Schach für viele politisch Inhaftierte notwendig zum geistigen Überleben. Eindrucksvoll belegt dies die Ausstellung mit aus Brot gekneteten Schachfiguren aus deutschen Konzentrationslagern. Aber auch nach dem 2. Weltkrieg wird Schach immer wieder zum Vehikel der Politik. Die Schachverbände im geteilten Deutschland spiegeln die politischen Verhältnisse fast 1:1 wieder und das Weltmeisterschaftsduell zwischen Spasski und Fischer 1972 wird zum Stellvertreterkampf der konkurrierenden Systeme hochstilisiert. In unseren Tagen des Pluralismus und der zahllosen Zerstreuungsmöglichkeiten hat Schach deutlich an gesellschaftlicher Bedeutung verloren. In welch ungewisse Zukunft das Spiel der Könige zu gehen scheint, deutet der letzte Teil der Ausstellung an, zu dem der berühmte Schachtürke des Baron Kempelen lädt. Welche Überlebenschancen hat das Spiel, wenn die „elektronischen Großmeister“ den menschlichen Gegner in doppeltem Wortsinn ausrechnen werden? Wenn sie schon besser Schach spielen als der Mensch, was werden sie in Bälde noch alles besser können? Und was Schachspieler wohl am meisten interessiert: wird ein Rechner irgendwann einmal berechnen können, wie Weiß bei optimalem Spiel immer gewinnt? Darauf weiß auch die Ausstellung keine Antwort, aber als – zugegeben unvollständiger – Crash-Kurs zum Thema Schachgeschichte, Gesellschaft und Politik ist die sehenswerte Bonner Schau voller Antworten auf Fragen, die Schachspieler eigentlich viel häufiger stellen sollten.