PHILIDOR UND DIE PARISER GESELLSCHAFT
François-André Danican Philidor war der beste Schachspieler des 18. Jahrhunderts. Mit seinem 1749 erschienenen Werk L’Analyse du Jeu des Echecs hat er das damalige Schachverständnis erheblich erweitert. Seine These, die Bauern seien die Seele des Spiels, war revolutionär und ist bis heute bekannt geblieben. Obwohl weit gereist, hat der in Dreux 1726 geborene Philidor die meiste Zeit seines Lebens in Paris verbracht. Seine seltene Doppelbegabung auf dem Gebiet der Musik und dem Schach machte ihn zu einem festen Bestandteil der gebildeten Pariser Gesellschaft. Er verkehrte mit den großen Köpfen der Aufklärung in den Salons, und er machte das Café de la Régence zum Mittelpunkt der damaligen Schachwelt. Eigentlich verstand er sich als Musiker, der Nachwelt bekannt geblieben ist er allerdings als Schachspieler. Das Spannungsverhältnis zwischen Musik und Schach, das sein Leben prägte, lässt sich auch topographisch nachempfinden: Vom Régence aus konnte er direkt auf die Oper blicken, die nur wenige hundert Meter entfernt liegt.
Über Philidors Leben in Paris führte KARL ein Interview mit der Philidor- Biographin Susanna Poldauf.
(Folgend finden Sie eine gekürzte Fassung des Interviews mit der Philidor-Biographin Susanna Poldauf. Den vollständigen Text finden Sie in KARL 4/06.)
KARL: Als Philidor 1740 nach Paris kam, war seine erste Anlaufstelle das Café de la Régence. Warum waren die Caféhäuser so populär?
SUSANNA POLDAUF: Die ganze Caféhauskultur ist erst Anfang des 18. Jahrhunderts entstanden. Das hat vor allem damit zu tun, dass zu jener Zeit der Kaffee eingeführt wurde und schnell in Mode kam. Es ist möglicherweise kein Zufall, dass in den Cafés schon immer auch Schach gespielt wurde. Kaffee passt gut zum Schach, denn beides kommt aus dem Orient. Diese beiden neuen Elemente müssen im Kontext des gesellschaftlichen Wandels begriffen werden. Das Individuum hatte plötzlich „Freizeit“, die es nun zu gestalten galt. Die Cafés eigneten sich hervorragend als Anlaufstellen, da sie öffentliche Orte waren, an denen man auch privat sein konnte. Die Caféhäuser deckten jenen Raum zwischen Privatheit und Öffentlichkeit ab und boten eine neue Form der Freizeitgestaltung. Um 1750 gab es etwa 600 Cafés in Paris, und in den meisten wurde Schach gespielt.
Hat Philidor zu einer Popularisierung des Schachs im Régence und darüber hinaus beigetragen?
Als Philidor auf dieser Bühne auftauchte, trafen sich die großen Aufklärer und Intellektuellen schon regelmäßig im Café de la Régence. Und auch Schach wurde schon gespielt. Aber als Philidor ins Régence kam, – und er war in seiner Anfangszeit fast jeden Tag da – waren die Gäste schnell von dem „Wunderkind“ angetan. Und die Taten des Jungen sprachen sich rasch herum.
Er war ja bei seinem ersten Besuch noch nicht sehr alt …
Er war erst vierzehn. Zuvor verbrachte er acht Jahre im Pagenkorps der Königlichen Kapelle von Versailles, wo er eine musikalische Ausbildung genoss. Dort herrschten unglaublich strenge Sitten. Sein Tagesablauf war einerseits durch religiöse Exerzitien, andererseits durch den auf sehr hohem Niveau geführten Musikunterricht strukturiert. Hinter diesen Kirchenmauern gab es wenig Freiheit. Als er nach acht Jahren in das Schachcafé kam, muss er sich wie in einer Gegenwelt gefühlt haben.
Von seinen Eltern wurde er früh getrennt.
Als er 1733 nach Versailles kam, war er erst sechs. Er hatte danach kaum noch Kontakt zu seinen Eltern. Zudem starb sein Vater kurz nach seiner Abreise.
Welche Unterstützung hatte er in Paris?
Er war ziemlich auf sich alleine gestellt, als er 1740 in die französische Metropole kam. Zu Beginn versuchte er, sich als Notenkopist und als Musiklehrer durchzuschlagen. Er muss für sein Alter unglaublich selbständig gewesen sein. Anfangs zog er wohl die meiste Zeit durch die vielen Cafés der Stadt. Sicher war er auch im Café Procope, wo Voltaire zugange war. Aber das Régence hat sich bald zu Philidors Lebensmittelpunkt entwickelt.
Die Schachcafés waren sicher nicht nur Zeitvertreib für Philidor.
Nein. Philidor hat sehr rasch seine Spielstärke verbessert. Dadurch war es relativ einfach für ihn, Geld mit dem Schach zu verdienen. Viel einfacher als mit der Musik.
In der Anfangszeit zählten wohl gerade die Blindvorstellungen gegen zwei bis drei Personen zu den Attraktionen im Régence.
Das ist richtig. Als Teenager trainierte er das Blindspielen und verdiente damit auch mit Sicherheit schon Geld. Das Spiel ohne Ansicht des Brettes faszinierte die Massen. Er gab oft Kostproben seines Könnens, so z.B. in Berlin 1750 bei seinem Besuch am Hof Friedrich II.. Nach seiner Rückkehr nach Paris hielt er sich damit jedoch zurück, um sich als Musiker zu positionieren.
In London spielte er jedoch weiterhin Schach …
Die Schachvereinsgründung hatte ihren Ursprung in den 1750er Jahren in England. Nachdem Philidor bald als Schachspieler in ganz Europa bekannt geworden war, erhielt er eine Einladung vom Londoner Schachclub Parseloe. Dort erhielt er ab 1775 einen Angestelltenvertrag, sodass er bis zu seinem Lebensende mehrere Monate im Jahr in der englischen Hauptstadt verbringen musste. Er war der erste Berufsspieler, der von einem Schachclub bezahlt wurde.
Und dort kultivierte er weiterhin das Blindspiel?
Insbesondere seine Blindspieldarbietungen in London begeisterten seine Zeitgenossen und versetzten sie in Staunen. Sie waren Ausgangspunkt öffentlicher Diskurse in Zeitungen über die Leistungsfähigkeit des menschlichen Geistes. Die Skeptiker sahen die große Gefahr der Schädigung durch Überanstrengung und rieten von der Nachahmung ab. Philidor scheint diese Tätigkeit aber nicht sehr angestrengt zu haben, denn es gibt Berichte, dass er immer noch entspannt mit den Zuschauern scherzte.
Zurück zu Philidors ersten Pariser Jahren: Zurzeit als Philidor im Régence auftauchte, war Legall der beste Spieler des Cafés. Wie war Philidors Verhältnis zu ihm?
Legall war Stammgast und hat damals sein Geld mit Schach verdient. Schnell hat er wohl das Talent Philidors erkannt und fungierte vermutlich in der ersten Zeit als sein Lehrer. Möglicherweise hat er sich auch am Gewinn des jungen Philidors beteiligt, aber das ist nicht dokumentiert. Doch schon bald hat ihn Philidor schachlich übertroffen.
Welche Personen verkehrten im Régence?
Z.B. Jean-Jacques Rousseau. Er war ein leidenschaftlicher Dilettant in vielen Bereichen, aber ein schlechter Schachspieler. Mit Philidor verband ihn eine besonders enge Beziehung. Über das Verhältnis beider ist eine nette Fußnote der Geschichte überliefert. Rousseau fragte den 19-jährigen Philidor, ob er ihm bei der Komposition seiner Oper „Les Muses galantes“, Die galanten Musen, ein wenig helfen könne. Philidor tat ihm den Gefallen und komponierte ein paar Passagen. Als diese Oper im bekannten Pariser Salon der Madame de Popelinière zur Aufführung kam, war auch Rameau anwesend, der der bedeutendste Komponist jener Zeit war. Das Publikum bemerkte schnell die Inkonsistenz des Arrangements, das qualitative Höhen und Tiefen aufwies und ganz offenbar aus unterschiedlichen Federn stammte. Rameau beschuldigte daraufhin Rousseau, er habe Teile der Komposition gestohlen.
Neben Rousseau war auch Diderot häufig im Régence.
Denis Diderot war der andere bekannte Philosoph, der sich regelmäßig im Régence aufhielt. Er spielte vermutlich kein Schach, war aber ein sehr genauer Beobachter. In seiner Satire „Rameaus Neffe“, in dem auch Philidor vorkommt, hat er die Atmosphäre des Schachcafés sehr plastisch beschrieben.
Wie war die Atmosphäre im Régence?
Die Intellektuellen diskutierten und philosophierten, andere versuchten sich an allerlei Brett- und Kartenspielen. Sänger zogen von Zeit zu Zeit durch die Räume. Ich stelle es mir ziemlich laut und lebhaft vor. Es muss ein großer Tumult geherrscht haben.
Gab es noch andere „Treffpunkte“?
Neben den Cafés waren im 18. Jahrhundert die Salons, die vorrangig von Frauen gegründet und geführt wurden, die intellektuellen Zentren der Stadt. Und an beiden Orten hielt sich Philidor auf.
Luden die Salons nur ausgewählte Gäste ein?
Ja. Philidor gehörte zum ‚inner circle’ dieser höheren Gesellschaft. Madame de Popelinière führte einen musikalischen Salon, in dem auch neuere Kompositionen zu hören waren. Philidor brachte hier einige seiner eigenen Werke zur Uraufführung.
Wie war das Verhältnis zwischen Schach und Musik bei Philidor?
Zwischen den Jahren 1745 und 1754 reiste Philidor durch mehrere Länder. Als er im Ausland war, spielte er zeitweise nur noch Schach. Erst als er 1754 wieder nach Paris zurückkehrte, bewarb er sich auf eine vakante Stelle seiner alten Wirkungsstätte, doch die lehnte ihn ab. Trotz des Rückschlages versuchte er, sich fortan verstärkt als Musiker zu profilieren.
War Philidor in Paris noch bekannt, als er nach neun Jahren zurückkehrte?
Das denke ich schon. Er spielte ziemlich schnell wieder ein Rückkehr-Match im Régence und demonstrierte eindrucksvoll, dass seine schachliche Überlegenheit sogar noch gewachsen war.
Also spielte Philidor auch in seinen späten Pariser Jahren regelmäßig im Régence?
Es gibt den Bericht des frühen Biographen von Philidor, Richard Twiss, die älteste uns vorliegende Quelle. Und nach dem Tod Philidors hat dessen Sohn einige biographische Notizen verfasst, die Jules Lardin herausgegeben hat. Philidor soll demnach vormittags komponiert haben, und nachmittags regelmäßig ins Régence zum Schachspielen gegangen sein. Aus dieser Pariser Zeit bleiben Simultan- und Blindvorstellungen die Ausnahme. Diese Schaukämpfe konzentrierten sich vor allem auf London.
Philidor war ja schon zu Lebzeiten ein „Star“.
Nicht zuletzt durch die Freundschaft mit dem Verfasser der Encyclopédie, Diderot, beschäftigte sich ein Artikel in der ersten Ausgabe dieses grundlegenden Werks der Aufklärung mit Philidor.
Welche privaten Zeugnisse von Philidor gibt es noch?
Die Quellenlage ist leider nicht so ergiebig. Sehr bedauerlich ist, dass kein Tagebuch oder etwas Ähnliches vorliegt. Weder Aufzeichnungen noch viele Briefe sind erhalten geblieben. Lediglich die Korrespondenz aus den allerletzten Jahren mit seiner Familie, die aus seinen Aufenthalten in England stammt, existiert noch. Politische Statements oder private Ansichten sucht man jedoch bis auf wenige Ausnahmen vergeblich. Der Inhalt dreht sich vorrangig um häusliche Dinge.
Das Schachbuch ist sein einziges schriftstellerisches Werk.
Ja, die Erstausgabe von L’Analyse du Jeu des Echecs ist in französischer Sprache 1749 in London erschienen. Geschrieben hat er es aber in Aachen, vermutlich wegen der provinziellen Annehmlichkeiten, die der bekannte Kurort damals zu bieten hatte. Aber recht schnell gab es etliche Übersetzungen, sodass sich das Buch in Windes Eile in ganz Europa verbreitete. 1754 erschien die erste deutsche Ausgabe. Ganz erstaunlich, wenn man den sehr speziellen Inhalt bedenkt. Dies belegt Philidors hohen Bekanntheitsgrad.
Ist die Auffassung haltbar, Philidor habe mit seinem zentralen Postulat der „Analyse“, die Bauern seien die Seele des Spiels – geäußert 40 Jahre vor der Französischen Revolution – die politischen Ereignisse antizipiert?
Das ist eine These, die der schachbegeisterte Schriftsteller Arrabal vertritt. Diese Theorie hat jüngst Kasparow wieder in seinen Predecessors kolportiert. Ich bezweifle jedoch sehr, dass Philidor so weitsichtig sein konnte. Ich halte diese Vermutung für etwas platt und sie lässt sich wissenschaftlich nicht stützen.
Philidor war selbst Teil des Monarchiesystems. Nach der Komposition der Ernelinde war er Pensionär des Königs. Außerdem hat er Ludwig XVI. Schachunterricht gegeben. Ich kann über diese Auffassung nur schmunzeln.
Die Partien in der „Analyse“ sind alle konstruiert. Warum hat er nichts aus seiner eigenen Schachpraxis verwendet?
Philidor wollte bestimmte Mechanismen des Schachs aufzeigen und seine Bauerntheorie beweisen. Ich versuche in meinem Buch klar zu machen, dass die Aufklärer mit der Encyclopédie durch das Ordnen, Kategorisieren und Systematisieren Prinzipien im Denken aufzuzeigen versuchen. Und ich könnte mir vorstellen, dass Philidor davon nicht unbeeindruckt geblieben ist, weil er durch die Freundschaft zu Diderot mit diesen Theorien vertraut war. Auf dem kleinen Gebiet des Schachs versuchte er diese Methoden auf seine Art anzuwenden. Möglicherweise war die Encyclopédie der Anstoß, die Analyse zu schreiben. Man kann dieses Schachbuch als Ausdruck des Zeitgeistes verstehen. […]
Das Interview führte Harry Schaack