EDITORIAL
LIEBE LESER,
die großen Metropolen der Welt sind vielgestaltige Organismen. Sie bieten den Raum für kulturelle Entfaltung und spiegeln die Geschichte wider, die sie oft selbst maßgeblich beeinflusst haben. Paris zählt zu den wichtigsten unter ihnen. Nicht nur einmal stand es im Mittelpunkt der Weltgeschichte. Hier war eine der Zentren der Aufklärung und hier begann mit der Französischen Revolution die Moderne Gesellschaft. Nicht wenige Bohemiens und Künstler vieler Epochen haben hier ihre Heimat gefunden. Und nicht zuletzt begann sich auch das Schachspiel den breiten Massen zuerst in Paris zu erschließen.
Wegen der gewaltigen Bedeutung der Stadt für die Entwicklung des Schachspiels bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts, haben wir uns entschlossen, uns im Schwerpunkt weitgehend auf diesen Zeitraum zu konzentrieren.
Es gibt wohl keinen Orte auf der Welt wie das Café de la Régence, an dem das Schachspiel über einen Zeitraum von über 250 Jahren fast ununterbrochen gepflegt wurde. Michael Ehn stellt die lebhafte Geschichte des Régence dar, das ein intellektueller Treffpunkt ersten Ranges war. Durch die Verwendung historischer Zitate lässt er die Atmosphäre wiederauferstehen. Von Philidor über Staunton und Morphy, von Tartakower bis Aljechin und Duchamp ging die gesamte Schachprominenz in diesen Räumen ein und aus. Als das Régence Mitte der Fünfziger Jahre seine Pforten schloss, ging nicht nur ein Stück Schach- sondern auch ein Teil gelebter Kulturgeschichte zu Ende.
Das Schachspiel erlebte im 18. Jahrhundert einen Popularitätsschub. Einerseits wegen der Schachcafés, andererseits aber wegen des herausragenden Protagonisten François-André Danican Philidor. Mit 14 Jahren kam er nach Paris und entwickelte sich bald zum besten Schachspieler der Welt. Bis heute ist sein Postulat, die Bauern sind die Seele des Spiels, in aller Munde. Über das bewegte Leben des „Wunderkindes“, das sich eigentlich als Musiker verstand, berichtet Susanna Poldauf in unserem Interview.
Michael Negele porträtiert Samuel Rosenthal, der sich Ende des 19. Jahrhunderts zum großen Schach-Impresario aufschwang und ungewöhnliche Vermarktungsstrategien entwickelte. Johannes Fischer zeigt den Siegeszug Emanuel Laskers im bedeutenden Pariser Turnier von 1900.
Und im Porträt berichtet Christian Gabriel über seine schon früh erfolgreiche Schachlaufbahn, sein zwiespältiges Verhältnis zu Computern und seine vielfältigen Interessen, die ihn das Schach etwas zurückstecken haben lassen.
Harry Schaack