ZWEI SCHACHLIEBHABER
VIKTOR KORTSCHNOI UND MAGNUS CARLSEN
Von Johannes Fischer
Viktor Kortschnoi,
Mein Leben für das Schach – Eine Biographie,
Zürich: Olms 2004,
248 S., gebunden,
29,90 Euro
(Das Belegexemplar wurde freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)
Freunde einer zünftigen Kontroverse hat Viktor Kortschnoi selten enttäuscht und auch in seiner Autobiographie Mein Leben für das Schach nimmt er kein Blatt vor den Mund. Genussvoll erzählt er, wer alles gegen ihn intrigierte oder einfach nur ein schlechter Mensch ist. So bezeichnet er Petrosjan und Spasski als „die führenden Schauspieler“, „Heuchler, tückische Leute, die äußerlich ein gutes Verhältnis zum Gegner haben, um ihn zu entwaffnen“ (S.81), Smyslow wird kritisiert, weil er „seine Anhänger in der Regierung“ häufig bat, ihm zu helfen und „gern Plätze in Turnieren in Anspruch nahm, die ihm nicht zustanden, indem er seine Großmeisterkollegen ausbootete“ (S.58). Tal wirft er vor, dass er „seine Seele“ hergab und „in Karpows Dienste“ trat, um wieder Turniere im Ausland spielen zu dürfen. Den größten Groll hegt er gegen Karpow (siehe auch S. 26 ff), aber eigentlich verdächtigt Kortschnoi fast jeden, Böses gegen ihn im Schilde zu führen.
Tatsächlich hat Kortschnoi Grund zur Paranoia. Er wird 1931 in Leningrad geboren und wächst in der Ära des Stalinismus auf. Als Kortschnoi zehn ist, zieht der Vater in den Krieg und kommt nie zurück, während die Großmutter, die ihn nach Trennung der Eltern umsorgt hatte, bei der Blockade Leningrads durch die Deutschen an Auszehrung stirbt.
Nach Kriegsende studiert Kortschnoi lustlos aber erfolgreich Geschichte und beginnt danach eine Karriere als Schachspieler. Bald gehört er zur sowjetischen Spitze und bekommt die Intrigen um Auslandsreisen, Plätze in der Nationalmannschaft und politischen Einfluss hautnah mit. 1976 beantragt Kortschnoi in Holland politisches Asyl und wird damit in der Sowjetunion zur Unperson. Der sowjetische Schachverband boykottiert Turniere, an denen er teilnimmt, seine Partien werden nicht veröffentlicht und seine Frau und sein Sohn, die weiter in der Sowjetunion leben, werden unter Druck gesetzt.
Aber diesen spannenden Geschichten, die einen schönen Kontrast zur üblichen Lobhudelei anderer Schachspielerbiographien bilden, mangelt es gelegentlich an Glaubwürdigkeit, da Kortschnoi die Distanz zur eigenen Person fehlt. So war er sich bei aller Kritik am politischen Konformismus seiner Kollegen selbst nicht zu schade, Parteimitglied zu werden, um weiter ins Ausland reisen zu dürfen. Und Petrosjan verhöhnt er, weil der nach seiner Schlappe gegen Fischer 1971 „mystische Kräfte“ verantwortlich macht, aber dabei sind Kortschnois Erklärungen für seine wiederholten Niederlagen gegen Karpow nicht weniger phantastisch. In Baguio 1978 schleicht sich angeblich der Parapsychologe Wladimir Suchar in sein Gehirn und 1981 in Meran schaffen die Sowjets drei Container ins Land, um Kortschnoi während des Wettkampfs gezielt bestrahlen zu können.
Ob man all das glaubt oder nicht, muss jeder selbst entscheiden. Aber unterhaltsam bleibt das Buch allemal – eben weil diese kontroversen, extremen Meinungen so typisch für Kortschnoi sind.
Simen Agdestein,
Wunderjunge:
Wie Magnus Carlsen der jüngste Großmeister der Welt wurde,
Alkmaar: New in Chess
2004, 190 S.,
19,80 Euro
(Das Belegexemplar wurde freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)
Wenig Kontroverses enthüllt dagegen das Buch Wunderjunge von Simen Agdestein, dem Trainer des 13-jährigen Norwegers Magnus Carlsen, derzeit jüngster Großmeister der Welt. Agdestein rekapituliert den rasanten Aufstieg Carlsens, präsentiert zahlreiche spektakuläre Partien und erzählt aufschlussreiche Anekdoten über Magnus‘ Training, die Förderung, die er durch seine Familie erhält, seine Schachleidenschaft, die ihn auch nach anstrengenden Turnierpartien oft noch bis in die Nacht Blitzpartien im Internet spielen lässt und sein erstaunliches Gedächtnis – „mit fünf Jahren kannte er die Gebiete, Bevölkerungszahlen, Fahnen und Hauptstädte aller Länder auf diesem Globus“ (S.59). Aber warum Carlsen so gut spielt, erklärt all das nicht. Magnus bleibt eben ein Wunderkind.
Vergleicht man die lange Lebensgeschichte Kortschnois mit der kurzen Carlsens fällt auf, wie viel günstiger die Umstände sind, unter denen Carlsen Schach gelernt hat. Auch scheint das Schach für ihn bislang vor allem Spiel zu sein. Und man fragt sich, ob er diese Unschuld behalten kann, sollte er eines Tages in die Intrigen des Spitzenschachs hineingezogen werden.