EIN MARSHALL AUF DEM WEG NACH OBEN

Von Thomas Huth

John S. Hilbert,
Young Marshall,
Collected Games 1893-1900,
282 Seiten, gebunden,
Moravian Chess Publishing House 2002,
44,50 Euro

(Das Belegexemplar wurde  freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)

Den Buchumschlag schmückt das Foto eines jungen Mannes, den man eher als erfolglosen Revolverhelden in einem Experimentalwestern von Jim Jarmusch erwarten würde als an einem Schachbrett. Auch der Titel führt einen zunächst auf eine falsche Spur. „Young Marshall“ ist da zu lesen, was wiederum eher an einen Hilfssheriff von Dodge-City denken lässt als an das königliche Spiel. Schließlich verrät nach solch subtilen Irritationen der Untertitel, dass es im vorliegenden Werk um die frühe Schachkarriere des amerikanischen Meisters Frank James Marshall geht.

Der Autor John S. Hilbert hat sich der Jahre 1893-1900 angenommen, die aus dem kanadischen Schachteenager den geachteten internationalen Turnierspieler des großen Pariser Turniers von 1900 werden ließen. Marshall gehörte danach für Jahrzehnte zu den festen Größen im jungen amerikanischen Schach. Dass dieser Erfolg ihm nicht in den Schoß gefallen ist, sondern Frucht langen Lernens und unermüdlicher Schachpraxis war, zeigt die „Schachbiographie“ im ersten Teil des Buches. Der zweite Teil illustriert diesen Werdegang durch 173 mehr oder (meist) weniger kommentierte Partien.

Wer nun hofft, etwas über den Menschen Marshall in Erfahrung zu bringen, wird hier nicht fündig. Vor dem Hintergrund einiger weniger dürrer Daten, wie die Geburt am 10. 8. 1877 in New York, den Umzug der Familie nach Montreal 1885 und die Rückkehr 1895 in die USA, nach Brooklyn, ist der schachliche Werdegang in epischer Breite entwickelt. Der Leser wird mit so ziemlich jedem Turnier, jedem Vereins- , ja sogar mit jedem Vereinslokalwechsel, behelligt. Wie Marshalls schachliche Leitbilder ausgesehen haben könnten, bleibt im Dunkeln. Learning by doing scheint das Rezept zur Spielstärkesteigerung gewesen sein. So kommt Marshall selbst mit der Empfehlung zu Wort, der schnellste Weg zur spielerischen Verbesserung sei die unverzügliche Mitgliedschaft in einem Schachclub. Den DSB wird’s freuen!

Überhaupt entwickelt der Autor auf den 121 Seiten des biographischen Teils eine kaum gezügelte Begeisterung fürs Zitieren. Neben zahllosen Zeitungsartikeln war auch das Buch My Fifty Years of Chess von Frank Marshall selbst ein unerschöpfliches Reservoir recyclingfähigen Materials. An mehreren Punkten allerdings kann John S. Hilbert Marshall nachweisen, dass er in seiner Autobiographie nicht immer mit sich selbst deckungsgleich ist. Es scheint durchaus verzeihlich, wenn sich ein Meister nach einem langen Schachleben nicht mehr hundertprozentig daran erinnern kann, wann er Vereinsmeister des Brooklyner Schachclubs war oder wann er an einer Blindsimultanveranstaltung gegen eine lokale Größe teilnahm. Schließlich hatte Marshall für seine eigene Biographie nicht die wertvollen Informationen aus 312 Fußnoten zur Verfügung. Allein sie machen annähernd ein Drittel des Textes aus!

Was an Marshalls Werdegang den nachhaltigsten Eindruck hinterlässt, ist der unermüdliche Ehrgeiz, durch dauerndes Spielen gegen möglichst stärkere Gegner, sich selbst weiter zu entwickeln. Er war nämlich durchaus kein Wunderkind und hatte daher, besonders nach großen Erfolgen wie den Turnieren in London (1899) und Paris (1900), herbe Rückschläge in miserabel gespielten Begegnungen zu verkraften. So folgte nach seinem hervorragenden Abschneiden im Kreise der Weltelite beim Pariser Turnier ein letzter Platz mit 2,5:7,5 bei der „Vereinsmeisterschaft“ im Manhattan Chess Club!

Auch diese Katastrophen stehen im Partieteil des Buches. Meist spärlich kommentiert taucht man in die Welt des Schachs der Jahrhundertwende ein. Allerlei Romantisches bietet sich dem Auge dar, mit Fleiß wird hier noch geopfert, und wenn „gestorben“ wird, dann aber richtig. Die Qualität der Partien ist folglich sehr schwankend, aber das Nachspielen auf jeden Fall unterhaltsam, zumal man endlich mal wieder ein flottes Königsgambit zu sehen bekommt oder die beliebte Einsteigereröffnung Italienisch. Die Notation ist fehlerfrei, die Diagramme schnell erfassbar. Ein wenig problematisch ist mitunter die Abschnittseinteilung. Nicht immer wird deutlich, ob es sich um den „Abspann“ der Vorgängerpartie handelt oder ob es bereits Teil der neuen Partie ist. Daran krankt vor allem auch der biographische Teil, der abgesehen von vielen Absätzen weder durch Kapiteleinteilung noch sonstige Strukturierungsversuche verformt ist. Wenn man dann neben schacharchäologischen Raritäten wie der ältesten bekannten, in diesem Falle rekonstruierten, Partie Marshalls auch so erheiternde Kurzpartien wie die gegen die lokale Schachgröße Short genießen darf, kommt man durchaus auf seine Kosten. Für Liebhaber des Sujets sicher eine Fundgrube.