EINIGE BEMERKUNGEN ZUR ERKENNUNG UND ENTWICKLUNG VON TALENTEN IM SPITZENSCHACH

Die nachträgliche Betrachtung der Entwicklung von Wunderkindern und hochbegabten Schachspielern ist eine Sache. Aber wieerkennt man, ob ein junger Spieler ausreichend Talent besitzt, um einmal in die Weltspitze vorstoßen zu können? Das sit die zentrale Frage für Trainer und Verbände bei der Förderung des Nachwuchses udn einer gezielten Unterstützung von Talenten. Will man sich nicht auf die Einschätzung von Eltern, Freunden, und Trainern verlassen, sind Fakten nützlich. Dirk Jordan hat die Entwicklung der stärksten jungen Spieler der Welt 1997 und nochmals 2001 einer statistischen Auswertung unterzogen.

Text und Grafik: Dirk Jordan

VORBEMERKUNG

In Deutschland wird seit 1997 wieder intensiver über das Nachwuchsschach nachgedacht. Man denke nur an den „Runden Tisch“ der Zeitschrift Schach im September 1997 zum Thema „Quo vadis deutsches Schach“, an die Gründung des Vereines Nachwuchsförderung Schach e.V., die Sonderförderung von besonderen Talenten des DSB (E. Pähtz), die Beantragung und damit der Versuch der Etablierung von Bundesleistungsstützpunkten u.a.m.

Die Grundlage der folgenden Arbeit entstand Ende 1997 und wollte einen Beitrag zu dieser Diskussion leisten. Die Entwicklung von Talenten im internationalen Spitzenschach wurde näher beleuchtet und daraus abgeleitet Empfehlungen für die Betrachtung von Entwicklungslinien aufgezeigt. Das Material wurde intern im DSB benutzt und der Entwicklungskorridor ist in der „Schachlehre“ von E. und U. Bönsch veröffentlicht.

Aus heutiger Sicht (September 2001) hat die inhaltliche Herangehensweise ihre Gültigkeit behalten. Der neu aufgenommene Teil: Aktualisierung mit Stand Juli 2001 dokumentiert dies.

Die aufgeworfene Fragestellung lautet:

  1. Läßt sich die Entwicklung der Spielstärke von Weltklassespielern anhand der Elo-Zahlen verifizieren?
  2. Lassen sich daraus Rückschlüsse für die Talentsichtung und -förderung ziehen?

Natürlich ist man geneigt, beide Fragen mit einem mehr oder weniger deutlichem „Ja“ zu beantworten. Deshalb besteht die Hauptaufgabe darin, das vorhandene Material zu sichten, geeignet aufzubereiten und die Ergebnisse aussagekräftig zu dokumentieren!

Da die Elo-Zahlen der letzten 30 Jahre die meisten und wichtigsten Informationen liefern, soll deren Entwicklung kurz aufgezeigt werden.

Wunderkinder-Statistik Jordan01
Entwicklung der Elo-Zahlen im Top-Bereich seit 1976

 

Der allgemein als „Elo-Inflation“ bezeichnete Prozeß wird deutlich. (Eine Vertiefung der Frage, wie sich hierbei „Inflation“, Spielstärkeentwicklung im Allgemeinen und im Besonderen sowie die Anzahl der gewerteten Spieler zueinander verhalten, soll hier nicht geführt werden.)

Weitere Informationen kann man der folgenden Tabelle entnehmen:

Wunderkinder-Statistik Jordan06

Auffallend ist die unterschiedliche Entwicklung bis Ende der 80-iger Jahre und ab Beginn der 90-iger Jahre. Die enormen politischen und damit gesellschaftlichen Veränderungen in Mittel- und Osteuropa sowie Asien sind als Hauptargument schnell ausgemacht. Da aber auch die Entwicklung in Staaten, die nicht zum Territorium der ehemaligen Sowjetunion gehören (z.B. England, Frankreich, Niederlande, Ungarn) enorme Fortschritte macht, müssen noch andere Gründe vorliegen.

Diese könnten sein:

  • der sich rasant entwickelnde Informationsaustausch
  • die gewaltig gestiegenen technischen Möglichkeiten durch die zunehmende Verbreitung von Computern
  • die sich verbessernden Trainingsmethoden
  • die explodierenden Spielmöglichkeiten (insbesondere die Anzahl der Turniere)
  • mindestens punktuell wachsen die finanziellen Rahmenbedingungen

Ausgehend von diesen Schlußfolgerungen erscheint es sinnvoll, die weiteren Betrachtungen auf Spieler, die 1997 nicht älter als 25 Jahre waren und eine Elo-Zahl =/> 2600 haben zu konzentrieren.


(I) BETRACHTUNG ZU DEN TOP-SPIELERN U 25 –
STAND 01.07.1997

In der Elo-Liste vom 01.07.1997 findet man 17 Spieler, die nicht älter sind als 25 Jahre und eine Elo-Zahl =/> 2600 aufweisen. Informativ ist die „föderale Struktur“ unter geographisch/politischem Gesichtspunkt:

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(* geboren und aufgewachsen in Osteuropa)


Hervorgehoben sei nun das wesentliche Ordnungsprinzip der weiteren Betrachtung: Jedem Spieler wird die Elo-Zahl zugeordnet, die er in dem jeweiligen Alter erreicht hatte. Das Kalenderjahr, in dem diese Zahl erreicht wurde, spielt dabei keine Rolle. Daraus ergibt sich die folgende Graphik:

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Entwicklung Top U 25 – Stand 01.07.1997


Betrachten wir die Graphik von links nach rechts, also dem fortschreitenden Alter nach.

Im Alter von 10 bis 13 Jahren sind naturgemäß noch wenige Spieler zu finden. Das hat auch mit der ehemals höheren Schwelle von 2200 Punkten für den Elo-Einstieg zu tun. Welche Ausnahmestellung Judith Polgar in jungen Jahren einnimmt, ist schon beeindruckend.

Zwischen 13 und 16 Jahren erfolgte offensichtlich die erste Elo-Wertung für die meisten Top-Talente. In der Regel einiges Über 2200, was auch darauf hindeutet, daß sie nicht erst mit 10 oder 12 Jahren Schach erlernt haben. In diesem Alter stellt man eine gewisse Uneinheitlichkeit der Trends fest. (Von äußerst steil bis hin zu seitwärts und abwärts) Dies ändert sich ab dem 16. Jahr. Eine prägnant stetige, teilweise steile Aufwärtsbewegung bei nahezu allen Spielern ist zu erkennen. Um das 20. Jahr verlangsamt sich die Aufwärtsbewegung und knickt teilweise ein. Die schon erwähnten „Späteinsteiger“ am unteren rechten Rand bilden eine gewisse Ausnahme. Sicher kann der geneigte Leser noch wesentlich mehr interessante Informationen entnehmen.

Das folgende ist ein Versuch der Abstraktion von Entwicklungslinien. Die erste (obere) Linie ist einfach. Man nehme jeweils die höchste von einem Spieler erreichte Elo-Zahl in einem bestimmten Alter. Diese obere Kurve soll „Top-Linie“ heißen. Als nächstes kann man den Durchschnitt aller Elo-Zahlen der Spieler im gleichen Alter bilden. Diese mittlere Linie nennen wir „Durchschnitt aller“ (Ø aller). Mit der dritten Linie erfassen wir die von den ausgewählten Top U25 im jeweiligen Alter mindestens erreichte Elo-Zahl. Diese untere Kurve nenne man „Mindest-Elo“.

Wunderkinder-Statistik Jordan02
Entwicklungslinien Top U25


Eine gewisse „Schwäche“ der Linie „Mindest-Elo“ liegt am Einfluß der unterschiedlichen Spieler die den „Punkt“ auf dieser unteren Linie liefern. Deshalb noch einige Gedanken zur Entwicklung einer „Unteren Schranke“ für die Elo-Entwicklung von Top-Talenten.

Wie kommt diese „untere Schranke“ zustande? In der Schar der Kurven im Diagramm „Entwicklung – Top U 25“ läßt sich relativ leicht eine untere Abgrenzung finden. Man lege z.B. einfach ein Lineal genau unter die Kurvenschar und lasse die beiden „Späteinsteiger“ rechts unten unberücksichtigt. Man erhält eine erste gute Annäherung von links unten (ca. 2000 Elo) stetig ansteigend nach rechts oben (bis ca. 2700 Elo). Dies bedarf nun noch weiterer Verfeinerungen. Bis ins Alter von ca. 13 Jahren soll mit einem steilerem Verlauf der Linie angedeutet werden, daß hier zum einen relativ wenig Informationen vorliegen und zum anderen sicher auch größere Sprünge denkbar sind. Zwischen 13 und 16 Jahre konnte man bei den Top U 25 teilweise uneinheitliche Trends sehen. Diesem geschuldet ist der etwas flachere Verlauf der unteren Schranke. Dennoch dürften die aufgezeigten 75 Elo-Punkte in 3 Jahren das unterste Kriterium sein. Spätestens ab 16 Jahre sollte die Entwicklung stetig sein und an Tempo gewinnen. Der Regelzuwachs von 50 Elo-Punkten pro Jahr unterstreicht dies. Eine nächste Etappe erreichen die Top U 25 Spieler Anfang 20. Hier haben alle ein hohes Spielstärkelevel erreicht. Es kommt zu einer Stabilisierung auf hohem Niveau bzw. zu einer langsameren ggf. differenzierteren Spielstärkeentwicklung. Dies soll durch die flachere Fortführung der „unteren Schranke“ angedeutet werden.

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Entwicklungskorridor (Top-Talente)


Das wesentliche Anliegen – das vorhandene Datenmaterial geeignet aufzuarbeiten – scheint hiermit erfüllt. Zusammenfassend sollen die folgenden Thesen aufgestellt werden:

  1. Seit Ende der 80er Jahre ist eine Dynamisierung, insbesondere auch quantitativ, zu verzeichnen. Wobei die besonders starken 75 und 76er Jahrgänge im Augenblick keinen Nachfolger zu haben scheinen.
  2. Die Weltspitze wird immer jünger und ist im Wesentlichen nicht älter als 35 Jahre.
  3. Die Top-Talente erreichen heutzutage ihr oberes Spielstärkenplateau im Alter von ca. 20-22 Jahren.
  4. Es lassen sich (mit der gebotenen Vorsicht) Entwicklungslinien für den internationalen Top-Schach-Nachwuchs aufzeigen. Von besonderem Interesse dürfte die Mittlere („Ø-aller“) und die „untere Schranke“ sein.
  5. Man darf wohl formulieren, daß ein Talent, welches in die Weltspitze vordringen kann/soll, in seiner Entwicklung möglichst um den „Ø-aller“ liegen sollte.
  6. Darüber hinaus ist mit einer hohen Warscheinlichkeit zu sagen, daß ein Talent welches ab dem Alter von 12 bis 14 Jahren nicht stets über der „unteren Schranke“ liegt, kein Weltklassespieler (=/> 2650 Elo) werden wird.
  7. Der Entwicklungskorridor sollte ein gutes Kriterium für die Aufnahme in ausgewählte Kader darstellen können.


(II) AKTUALISIERUNG MIT STAND JULI 2001

Vorangestellt werden einige auffallende Aspekte in der Entwicklung auf der Basis der Elo-Liste (01.07.2001):

  1. Gab es 1996 noch 68 Spieler mit einer Elo-Zahl =/> 2600, so sind es 2001 nun schon 94 Spieler.
  2. Es sind 13 Spieler dieses Zuwachses von insgesamt 26 Spielern jünger als 25 Jahre.
  3. Den starken 1975 (Kramnik, Topalov) und 1976 (Polgar J., Swidler, Swaginzew, Almasi, Nisipeanu) Jahrgängen folgt nun der 1983-iger (Ponomariov, Grischuk, Bacrot).
  4. Die Entwicklung aus geographischer Sicht ergibt folgendes Bild:
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(Wobei -5 bedeutet, es sind 5 Spieler aus der Analyse 1997 entfallen, bzw. = sind noch dabei, bzw. + sind neu hinzugekommen. Die kursiv gedruckten Spieler waren 1997 schon dabei.)


Der Ansatz der Betrachtung wird analog 1997 gewählt. Es werden alle Schachspieler die in der Elo-Liste mit Stand 01. Juli 2001 eine Elo-Zahl =/> 2600 haben, jünger als 25 Jahre und neu hinzugekommen sind bezüglich Ihrer Elo-Entwicklung betrachtet.

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Entwicklung Top U 25 (neu) Stand 01.07.2001


ZUSAMMENFASSUNG

  1. Alle neu hinzugekommenen Spieler liegen bezüglich ihrer Entwicklung im wesentlichen in dem 1997 herausgearbeiteten Korridor.
  2. Die beiden Spieler (Sutovsky und Najer), die in jungen Jahren teilweise tiefer als die untere Schranke liegen, kommen im „höheren“ Alter wieder unter diese.
  3. Damit werden die vor 5 Jahren getroffenen Einschätzungen bestätigt. Es sei insbesondere auf C) bis G) (siehe oben) verwiesen.

Dr. Dirk Jordan, Dresden, im September 2001