Kurz vor der FIDE-WM schrieb Mikhail Golubew den untenstehenden Artikel, in dem er dem Leser einen Überblick über die Schachszene seines Landes gibt. Damals konnte er noch nicht wissen, dass wenig später zwei Ukrainer den Weltmeister unter sich ausspielen werden. Und offenbar gibt es an weiteren vielvesprechenden Talenten keinen Mangel in idesem Lande …

GRÜSSE AUS…

Odessa Postkarte

Von Mikhail Golubew


Selbst Ukrainern ist ihr Land immer noch ein Rätsel. Als ich den Präsidenten des Schachverbands der Ukraine letztes Jahr einmal gefragt habe, wie viele Schachspieler es in unserem Land gibt, gab er zur Antwort: “ungefähr eine Million Amateure und Profis.” Selbst wenn das stimmt, so ist die grosse Mehrheit dieser Spieler weder organisiert noch registriert – auf dem diesjährigen Treffen des Schachverbandes des Bezirks von Odessa war von 4000 offiziell dort registrierten Schachspielern die Rede. Dabei ist dies einer der größten der vielen Bezirke der Ukraine. Und was erzählt man Leuten aus dem Ausland, die meist schon einmal von Wladimir Klitschko, Andrej Sewtschenko, und Kiew gehört haben, und denen manchmal sogar die Krim, Odessa oder Lvov ein Begriff ist. Fragen mich Europäer über mein Land interessiert sie vor allem – und manchmal sogar nur das allein – ob Ukrainisch sich irgendwie vom Russischen unterscheidet. Diese Frage wurde mir so oft gestellt, dass ich die Antwort im Schlaf herunterbeten kann: ja, die Sprachen sind etwa so verschieden wie Deutsch und Holländisch. (Diesen Unterschied zwischen den beiden Sprachen werten viele Europäer als ein gutes Zeichen). Meist füge ich noch hinzu, dass die Zahl russisch-stämmiger Bewohner des Landes etwa genau so hoch ist wie die Zahl der Leute ukrainischer Abstammung. Offizielle Landessprache ist allerdings Ukrainisch. Aber wenn man möchte, kann man natürlich russisch sprechen – ich selbst käme z.B. im russisch-sprachigen Odessa in Anbetracht der Qualität meines offiziellen Ukrainisch nicht sehr weit.

Ich hoffe, der Sieg der Ukraine bei der nicht weit zurück liegenden Mannschaftsweltmeisterschaft in Jerewan weckt das Interesse an meinem Land. Ebenso hoffe ich, dass durch diesen Sieg in meiner Ukraine das Interesse am Schach größer wird. In den neunziger Jahren verfolgte das Land vor allem das politische Ziel der Errichtung eines ukrainischen Staats. Und ob gut oder schlecht, so bedeutete dies in erster Linie, die Unterschiede zu Russland auf jede nur erdenkliche Weise zu betonen. Nach zehn Jahren ist dies Ziel erreicht und auch die meisten der russisch sprechenden Ukrainer verspüren nicht einen Hauch von UdSSR-Nostalgie; sie würden nicht im Traum daran denken, sich wieder mit Russland vereinigen zu wollen.

Allerdings blieb das Schach, ein Sport, der sich immer noch einer grossen Beliebtheit erfreut, (etwa 15% jeder Ausgabe unserer Sportzeitung Sportyvna Gazeta widmet sich dem Schach), dabei so ziemlich auf der Strecke und erfährt heutzutage keine nennenswerte staatliche Unterstützung.

Der Grund dafür liegt auf der Hand: die Ukraine hatte kein Interesse an einer nicht-olympischen Disziplin, in der die eigene Mannschaft bei allen wichtigen Wettbewerben stets hinter Russland landet. Vermutlich wäre es besser gewesen, nicht zweimal Silber und einmal Bronze bei der Schacholympiade zu holen, sondern Rang 15-20 zu belegen, aber immerhin vor den nördlichen Nachbarstaaten zu landen.

Ich kann nur hoffen, dass der Gewinn der Weltmeisterschaft den ukrainischen Staat veranlasst, Schach zumindest moralisch zu unterstützen, da dies sehr wichtig für die Entwicklung des Spiels wäre. Aber das ist jetzt genug Politik: reden wir lieber vom ukrainischen Schach.

Obwohl viele herausragende Spieler der Ukraine in den 90er Jahren den Rücken gekehrt haben (man denke nur an Namen wie Gurewitsch, Tschernin und Beljawski) gibt es immer noch sehr viele starke Profis. Was die reine Zahl an Großmeistern betrifft, so liegen lediglich Deutschland und Russland vor der Ukraine, wobei der deutsche Vorsprung nicht von Belang ist. Spricht man über bedeutende ukrainische Spieler der Vergangenheit, fallen einem sofort zwei Namen ein: Stein und Geller. Aber sofort wird es wieder politisch, denn obwohl ich Geller für den größten Spieler halte, den Odessa je hervorgebracht hat, bin ich mir nicht sicher, ob er tatsächlich ein ukrainischer Spieler war. Schließlich hat er die zweite Hälfte seines Lebens in Russland verbracht und meiner Ansicht nach beginnt die Geschichte der Ukraine im Jahre 1991, und zwar genau zu dem Zeitpunkt, als wir das Glück hatten, uns vom russischen Imperium lossagen zu können.

Der zur Zeit beste ukrainische Spieler ist sicherlich Wassili Iwantschuk. Er hat sich bereits einen wichtigen Platz in der Schachgeschichte erobert und hat noch immer Chancen, Weltmeister zu werden, da er dieses Jahr gerade einmal 32 geworden ist. Da wir der gleichen Generation von Spielern angehören, kenne ich Wassili seit 1983. Damals nahm er das erste Mal an der Jugendmeisterschaft der Republik der Ukraine teil. Wir spielten anschließend auch gemeinsam bei der Jugendmeisterschaft der Ukraine und konnten uns beide für die Jugendmeisterschaft der UdSSR qualifizieren. Aber damit war die gemeinsame Erfolgsgeschichte noch nicht zu Ende: 1985 durften wir in Klaipeda an einem Turnier teilnehmen, in dem der sowjetische Teilnehmer an der Jugendweltmeisterschaft ermittelt wurde. Nur der Sieger konnte fahren und unter den Teilnehmern von damals sind viele mittlerweile gut bekannte Namen: Barejew, Smirin, Akopjan, Serper, Ulibin, Georgi Timoschenko, und auch Lembit Oll, der sich 1999 das Leben genommen hat. Ich belegte zusammen mit einem etwas älteren Burschen namens Boris Gelfand den geteilten 11. bis 12. Platz. Wassili gewann mit 11 aus 13 und begann seine phantastische Karriere. Als Spieler, der Varianten unglaublich schnell berechnet und über ein extrem tiefes Schachverständnis verfügt, ist Iwantschuk sicher eines der stärksten Wunderkinder in der Geschichte des Schachs. Ich weiß noch, wie Iwantschuk 1985 von mir etwas über irgendeine Variante im Evans-Gambit wissen wollte. Diese Variante war damals Teil meines Repertoires, und obwohl Iwantschuk nie Evans-Gambit spielte, wurde mir bald klar, dass er mit den Problemen und der Theorie dieser Eröffnung viel besser vertraut war als ich. Vielleicht wird Iwantschuk eines Tages tatsächlich noch einmal Weltmeister, wenn er bei der Vorbereitung dem Beispiel aller anderen Spitzenspieler folgt und einen Computer benutzt.

Aber jetzt zu unseren Nachwuchshoffnungen. Ruslan Ponomarjow ist der führende Vertreter einer neuen Generation ukrainischer Spieler und sicherte sich vor kurzem einen Platz unter den Topspielern der Welt. Da ich Ruslan sehr gut kenne, fällt es mir nicht leicht, nur kurz etwas über ihn zu sagen. Was an seinem Spiel auffällt, ist, dass er fast alle Stellungen gleich gern spielt – mit einer Ausnahme: er ist stets bereit, Positionen zu spielen, die seine Siegeschancen erhöhen. Dies kann ein Endspiel sein, das sich hundert Züge lang hinzieht und andere langweilt, aber auch ein Bauernopfer um den achten Zug herum. Das macht für Ruslan keinen wirklichen Unterschied, so lange er Chancen hat. Viele Leute hoffen und glauben, dass Ponomarjow bald gute Aussichten hat, Weltmeister zu werden und ich wünsche mir das auch. Tatsächlich ist er unter den Top 20 in der FIDE Weltrangliste, unter den Top 10 des Profischachverbands und das mit 18 Jahren. Selbstverständlich ist Ruslan eines der vielversprechendsten Talente der Welt.

Auch Andrej Volokitin, ein 15-jähriger Spieler aus Lvov, machte in diesem Jahr nachdrücklich auf sich aufmerksam. In vier aufeinander folgenden Turnieren erzielte er eine Großmeisternorm; darunter waren die Europameisterschaft, bei der er sich für die FIDE-WM qualifizieren konnte, ein starkes Großmeisterturnier in Portoroz und die außergewöhnlich stark besetzte Meisterschaft der Ukraine. Die größte Überraschung gelang Volokitin jedoch in seinem Mini-Match gegen Ruslan Ponomarjow beim Jungmeisterturnier in Lausanne 2001. Gelegentlich analysiert Volokitin zusammen mit Wassili Iwantschuk und genau wie Wassili verzichtet er bei der Analyse auf einen Computer. Andrejs Stil und seine Einstellung zum Schach befindet sich noch in der Entwicklung und zur Zeit ist er einfach ein 15-jähriger, taktisch aggressiver Spieler mit einer Spielstärke von über 2600.

Es gibt zahlreiche andere talentierte Jugendliche, von denen ich nur ein paar erwähnen möchte. Zahar Efimenko wurde 1999 Jugendweltmeister. Er ist 16 Jahre alt und lebt genau wie Ruslan Ponomarjow in Kramatorsk, einer Stadt in der östlichen Ukraine. Dort gibt es im örtlichen neuen A.V. Momot Schachklub von Donezk, der durch das Unternehmen Danko aus Donezk nachhaltig gefördert wird, eine Gruppe talentierter junger Spieler. Früher lebte Zahar in Usgorod, im genau entgegengesetzten Teil der Ukraine, mehr als 1000 Kilometer von Kramatorsk entfernt. Bereits jetzt ist er ein starker Profi.

Anton Korobow aus Kharkov ist ein weiterer 16-jähriger Spieler, der bereits eine Reihe bemerkenswerter Erfolge erzielen konnte. Er hat intensiv mit Alexander Vaysman zusammen gearbeitet. Vaysman ist der bekannteste Trainer der Ukraine und hat schon zahlreiche Großmeister, von denen die meisten etwa so alt sind wie Iwantschuk, betreut. Ich glaube, Antons Spielstärke bewegt sich um die 2600 herum.

Sergej Karjakin, der neue U-12 Weltmeister. Erfahrene Trainer bezeichnen ihn als das größte Talent, das die Ukraine je hervorgebracht hat.

Juri Drozdovskij ist 17 Jahre alt, verfügt über eine Spielstärke von ungefähr 2500 und ist die grosse Hoffnung meiner Stadt Odessa. Odessa war stets ein bedeutendes Schachzentrum, aus dem viele starke Spieler hervorgegangen sind (neben Geller beispielsweise Tukmakow, Eingorn, Lerner, Sawtschenko, Moskalenko; auch die amerikanischen Großmeister Alburt und Belakowskaja stammen aus dieser Gegend). In den 90er Jahren machte das Schach in Odessa eine schwere Krise durch und unsere Spieler spielten keine grosse Rolle in der Schachszene der Ukraine. Lediglich zwei Spieler, Dmitrij Tishin (einmal) und Juri Drosdowskij (zweimal) erzielten nennenswerte Erfolge und waren bei Europäischen Jugendmeisterschaften erfolgreich.

Aber trotzdem hoffe ich, dass es mit dem Schach in der Ukraine und ganz besonders in Odessa weiter aufwärts geht.