UMFANGREICHES BILDERWERK
Von Harry Schaack

Larry List,
Permanent Attraction: Man Ray & Chess,
Hirmer Verlag 2025,
Hardcover, 240 S., 45,- Euro
(Das Rezensionsexemplar wurde freundlicherweise vom Hirmer Verlag zur Verfügung gestellt.)
Der Dadaist und Surrealist Man Ray (1890-1976) zählt zu den einflussreichsten Künstlern des 20. Jahrhunderts. Sein fotografisches Werk mag am bekanntesten sein, aber er betätigte sich auch als Regisseur, Maler und Objektkünstler. In seinem Schaffen kam seiner lebenslangen Schachleidenschaft eine besondere Bedeutung zu. Man Ray konnte im praktischen Schach zwar nicht mit seinem Freund Marcel Duchamp mithalten, der es bis in die französische Nationalmannschaft schaffte. Aber als Sujet schlug sich Schach schon früh in allen Medien nieder, mit denen er arbeitete.
Larry List, ein unabhängiger Kurator aus New York, wurde 2006 vom Man Ray Trust beauftragt, alle verfügbaren schachrelevanten Werke Man Rays zusammenzustellen. Nach 20-jähriger Arbeit ist jetzt Permanent Attraction: Man Ray & Chess erschienen, das erstmals eine Gesamtübersicht über das umfangreiche schachliche Schaffen Man Rays präsentiert. Das edel gefertigte Buch zeigt 350 Abbildungen, die vom Autor sachkundig eingeordnet werden, teils mit Hinweisen auf die Provenienz der Stücke, die nicht selten durch die Hände zahlreicher bekannter Persönlichkeiten gingen. Nicht zuletzt ist List ein guter Erzähler, der nebenbei auch Man Rays Biografie lebhaft schildert.
In Philadelphia geboren, lebte Man Ray zunächst in New York, bevor er 1921 nach Paris übersiedelte. Kurz vor der Okkupation Frankreichs durch die Nazis floh er zurück in die Vereinigten Staaten nach Hollywood, wo er den US-Nationalspieler Herman Steiner kennenlernte, der in Kalifornien Filmgrößen wie Humphrey Bogart und Lauren Bacall Schachunterricht gab. 1951 zog Man Ray wieder zurück in die französische Metropole, wo er 1976 starb. Sein Grab befindet sich auf dem Friedhof Montparnasse.
Hinsichtlich der Menge und Vielfalt an schachlichen Kunstwerken war Man Ray unter den Künstlern der Moderne der „Erste unter Gleichen“, wie es List ausdrückt. Schachspiele nehmen einen erheblichen Teil im Schaffen und hinsichtlich des Einkommens von Man Ray ein. Wohl kein Künstler seiner Zeit hat mehr Schachspiele kreiert als er. Wann er sein erstes Schachspiel-Design entworfen hat, lässt sich laut List nicht mehr bestimmen, weil die frühen Entwürfe wahrscheinlich verloren gegangen sind. Aber schon 1914 sind Schachfiguren auf einer Zeichnung von ihm zu finden. Doch erst 1920 fertigte er sein erstes Schachspiel an – ein Unikat aus einfachem Holz, das sich heute im Metropolitan Museum befindet. Es ist das erste bekannte vollständig abstrakte Spiel der Moderne überhaupt (In islamischen Schachspielen waren die Spielsteine natürlich seit jeher abstrakt). Vermutlich wurde Man Ray dazu von Duchamps 1919 entstandenem Buenos Aires Schachspiel angeregt. Beeinflusst von Duchamp und Brancusi suchte er nach neuen Formen für seine Figuren. Inspiriert von einem Modellkasten mit Pyramiden (Könige), Zylindern (Damen), Quadern (Türme), mit einem Sockel verstärkte Kugeln (Bauern) sowie bauchigen Flaschen (Läufer) basierte Man Rays Entwurf weitestgehend radikal auf geometrische Grundformen. Als Springer diente die Schnecke vom Hals einer Violine. Weil Man Ray zu jener Zeit mittellos war, stellte er nur eine einzige Kopie dieses Designs her. Erst 1926, nachdem sich Man Ray einen festen Platz unter den Avantgardisten erobert hatte, wurden diese ikonischen Figuren in Messing gegossen – ein Exemplar davon für einen Maharadscha vergoldet und versilbert.
Die Schachspiele, die Man Ray später in Kalifornien entwarf, zählen zu seinen originellsten und elegantesten Designs. Einige dieser Schachspiele sind in Hollywood-Filmen zu sehen, andere waren im Besitz von Berühmtheiten wie dem Regisseur Josef von Sternberg, dem Künstler Max Ernst, dem Jazz-Musiker Artie Shaw oder dem Komponisten Igor Strawinsky. Im Gegensatz zu seinen Anfangsjahren, als er noch ganz kleine Auflagen im Luxussegment produzierte, stellte Man Ray in Los Angeles umfangreiche Editionen her, wodurch er durch den Verkauf seiner Schachspiele Mitte der Vierziger die profitabelsten Jahre seiner Karriere erlebte.
Seine Schachspiele sind aus diversen Materialien, von Holz bis zu verschiedenen Metallen und Edelsteinen. Sein feinstes Schachspiel, das Giant Chess Set mit bis zu 30,5 cm großen Figuren, ließ er jedoch erst 1961 anfertigen. Das teuerste aber war ein Spiel aus Bronze von 1962, das beim Verkauf so viel kostete wie ein neuer Cadillac.
Mittlerweile sind Man Rays Schachspiele begehrte Sammlerobjekte. 2016 wurde eines seiner Schachspiele, das zuvor im Besitz von David Bowie war, für 138.000 Dollar versteigert und 2024 erzielte ein Bronze-Schachspiel von 1962 einen Preis von über 200.000 Euro. (Der höchste Preis, der bislang für ein Werk von Man Ray bezahlt wurde, liegt allerdings bei fast 12,5 Millionen Dollar für die Fotografie Le Violon d’Ingres (1924)).
Neben den Schachspielen hat Man Ray auch einige Objekte entworfen, die Schachbezug haben. Eines ist Permanent Attraction, das aus drei Großskulpturen auf einem Schachbrett besteht, die nicht nur auf dem Cover abgebildet sind, sondern dem Buch auch seinen Titel gaben. 1960 gestaltete Man Ray durch die Vermittlung von Duchamp für die US-Schachföderation einen Pokal. Und angeregt von einem Schachspiel, das Max Ernst entworfen hatte, kreierte Man Ray 1970 die 20,5 cm hohe Bronzeskulptur Le Fou.
Obwohl Man Ray auch als Maler gesehen werden wollte, gibt es nur wenige Schachgemälde. Eines ist der Springerwanderung gewidmet. Öfter bezieht Man Ray ein Schachbrettmuster in seine Gemälde mit ein. In Endgame von 1946 spielen zwei auf dem Schachbrett sitzende Gliederpuppen mit Man Rays ersten designten Schachfiguren.
In der Fotografie hingegen hat Man Ray auf hunderten, wenn nicht tausenden Fotos Schachsujets eingefangen. Für eine komplette Abbildung wäre ein eigenes Buch nötig. Permanent Attraction beschränkt sich auf eine beispielhafte Auswahl. Unter den Fotos findet sich auch ein Porträt von Alexander Aljechin aus dem Jahr 1929, auf dem der Weltmeister vor einem leeren Schachtisch posiert, der für Man Rays Silver Chess Set gefertigt wurde.
Zwar kommt in Man Rays Experimentalfilmen der 20er-Jahre, mit einer kleinen Ausnahme (eine kurze Sequenz in Emak Bakia), kein Schach vor. Doch das wohl bekannteste Bild, das Man Ray mit dem Schach in Verbindung bringt, ist eine Szene aus Rene Clairs dadaistischem Kurzfilm Entr’acte (1924), das ihn auf einem Pariser Hausdach mit Duchamp schachspielend zeigt.
Unter den Abbildungen befindet sich auch einer der seltenen Notationszettel einer Partie von 1921, die Man Ray gegen Duchamp vermutlich im New Yorker Marshall Chess Club gespielt hat, in dem Duchamp Mitglied war.
Permanent Attraction illustriert nicht nur erstmals monografisch die Schachleidenschaft Man Rays, sondern macht auch deutlich, wie eng das Schach die avantgardistische Kunst der Moderne begleitet hat.