DAS MISSLIEBIGE SPIEL
Über das frühe Verhältnis monotheistischer Religionen zum Schach
VON MICHAEL EHN
(Der Artikel ist auszugsweise wiedergegeben.
Den ganzen Text lesen Sie in KARL 3/25.)

- Zankapfel im Islam
Als um 800 das Schachspiel über Nordafrika in den Süden der iberischen Halbinsel und nach Sizilien gelangte, herrschte bereits ein reger Kulturaustausch zwischen dem islamischen Orient und dem christlichen Okzident. Die arabischen Nomadenstämme hatten in nicht einmal hundert Jahren nach dem Tod des Propheten Mohammed (570-632) ein Weltreich errichtet, das vom byzantinischen Asien, Persien, Ägypten und dem größten Teil Nordafrikas bis nach Spanien reichte. Von den Persern übernahmen die Araber im 7. Jahrhundert unter anderem auch das Schachspiel und führten es zu erstaunlicher Blüte, da sich die Nachfolger Mohammeds über die Zulässigkeit dieses Spiels im Gegensatz zum Würfeln und anderen Glücksspielen nicht einigen konnten. Der Koran erwähnt das Schachspiel nicht explizit, Mohammed hat es, wie das ebenfalls von den Persern übernommene NardSpiel (ein Vorläufer des Backgammon), nicht gekannt. Der Prophet beurteilte Spiele an sich als überflüssig und als Hindernis auf dem Weg der rechten Erkenntnis; sie werden summa summarum als sündig und Satanswerk verworfen. Konkret spricht der Koran aber nur vom besonders verwerflichen Losspiel („maisir“)1. In den folgenden Jahrhunderten bildeten sich aufgrund dieser Unsicherheit die gegensätzlichsten Urteile über das Schachspiel: Je nach mehr konservativer oder mehr liberaler Auffassung kamen die Exegeten zum Schluss, dass das Schachspiel verflucht, unbedenklich oder sogar nützlich sei. So schrieb zum Beispiel Marġīnānī 1326 in seinem vierbändigen Werk über muslimisches Recht: „Wer Schach oder Nard spielt, ist wie einer, der seine Hand in Schweinsblut taucht.“ Als unbedenklich stuft hingegen eine Reihe anderer Exegeten, wie z.B. Ad-Dahhāk das Schachspiel ein: „Nichts ist dagegen einzuwenden, solange man nicht dabei wettet oder solange es nicht vom Gebet abhält oder solange man nicht dabei schwört.“ In der Minderheit waren von Anfang an diejenigen, die das Schachspiel im Einklang mit dem Glauben befanden, wie Ibn Māsawaih, der auf die Frage des Hārūn ar-Rašīd, was er vom Schachspiel halte, antwortete: „Jedermann meint, nur das Schachspiel beinhalte elegante Wissenschaft oder bedeutenden Nutzen oder großes Vergnügen. Wusstest du nicht, dass die früheren Gelehrten es ‚Halsband der Weisheit‘ zu nennen pflegten?“ (siehe ausführlich Wieber 1972). Dieser Konflikt überdauerte die Jahrhunderte und hält bis in die Gegenwart an. Es scheint jedoch, dass allmählich die konservativen Strömungen die Oberhand gewinnen.2
Im Windschatten des Zwiespalts der Meinungen gedieh das Schachspiel prächtig. Die dekorativen Figuren der Perser erhielten in den vom Islam beherrschten Regionen abstrakte Formen. Bereits um die Mitte des 9. Jahrhunderts war die Institutionalisierung des Schachs so weit fortgeschritten, dass es regelrechte Kategorien für die Leistungsstärke von Schachspielern gab. Man unterschied fünf bzw. sechs Klassen, die Schachmeister wurden in die höchste Klasse („Aliyat“) eingereiht. Es scheint keine gesellschaftlichen Schranken in der Praxis des Spiels gegeben zu haben; Frauen, Vornehme und Sklaven spielten ebenso wie die Söhne der Kalifen. Berufsspieler etablierten sich, Schachtheorie und -manuskripte3 entstanden, Wettkämpfe, zum Teil um hohen Einsatz, wurden ausgetragen. Besonders der legendäre, in Bagdad herrschende Kalif Hārūn ar-Rašīd (763-809), der sich mit einer glänzenden Schar von Dichtern, Wissenschaftlern und Künstlern aller Art umgab, wurde zu einem großen Förderer des Schachspiels. Seine Regierungszeit überstrahlte alles bisher da Gewesene an Prunk, Reichtum, Macht und Mäzenatentum. Die Namen der größten Meister dieser Zeit, wie Al-’Adlī (800-870), Abū Bakr Muḥammad bin Yaḥyā aṣ-Ṣūlī; (854-946) oder Al-Lağlāğ (900-970), waren überall bekannt und populär.
Die ursprüngliche Benennung der Spielsteine stammt aus dem Persischen in arabisierter Form. Als das Schach den europäischen Parcours im 9. Jahrhundert betrat, hatte dies radikale und schnelle Änderungen auf der semantischen Ebene zur Folge. Am Anfang stand der Versuch, die Termini phonetisch zu assimilieren bzw. zu übersetzen, am Ende steht die völlige Übernahme und semantische Transformation in den europäischen höfischen Kanon, wozu wir schon frühe Vorläufer, wie das bedeutsame Gedicht mit dem Titel Versus de scachis von Einsiedeln (Kanton Schwyz), das knapp vor der Jahrtausendwende entstanden ist, finden. In diesem ersten abendländischen Zeugnis des Schachspiels werden in 98 Versen zum ersten Mal in Europa seine Regeln beschrieben. Das Brett hat acht mal acht Felder („tabulae“), welche hell und dunkel gefärbt werden, denn die Unterscheidung dieser beiden Farben helfe beim Denken und erleichtere es, den Zügen zu folgen. Die Regeln sind dieselben wie die arabischen, mit einer Ausnahme: Der Bauer kann nur zur „Regina“ (Dame) werden, wenn die originale Regina nicht mehr auf dem Brett ist. Das Werk ist völlig frei von arabischer Terminologie, die lateinische Nomenklatur aller Figuren ist auf die höfische Struktur der mittelalterlichen Gesellschaft übertragen: Rex (König), Regina (Dame), Comes (Läufer), Eques (Springer), Rochus (Turm) und Pedes (Bauer).
Da das Schachspiel sich in der erstaunlich kurzen Zeit von nicht einmal drei Jahrhunderten (900-1100) über ganz Europa verbreitete, liegt es nahe, dass es „Begleiter“ eines bedeutsameren Partners gewesen sein muss, der für den Handel unentbehrlich war, nämlich das indische Zahlensystem, das die Araber übernahmen. Es war dem bis dahin verwendeten Ziffernalphabet der Römer überlegen und löste es ab. Die Leistung des neuen Zahlensystems, das in Indien fast zeitgleich mit dem Schachspiel seinen Ausgang nahm, bestand in der Erfindung der Ziffer Null. Mit den freien Symbolen von variablem Wert konnte nun mit beliebig großen Zahlen gerechnet werden. Das Schachbrett wurde hierbei als eine Art Abakus zum Zweck der Rechnung benutzt. Das geht eindeutig aus Notizen und einer Illustration des Schachbretts als Rechenhilfe aus dem Schachwerk des Al-’Adlī hervor. Diese Analogie zwischen Rechenbrett und Schachbrett lässt sich über viele Kulturen und Jahrhunderte hinweg verfolgen4. Die Geschichte der Verbreitung dieser beiden Kulturtechniken über die Welt verläuft fast parallel. So erfolgte auch der Transfer des Schachspiels wie der indischen Arithmetik nach Europa über die iberische Halbinsel. Der jüdische Gelehrte Abraham ben Meir ibn Esra (1092-1167) beschrieb die indische Rechenmethode als einer der Ersten und er war zugleich einer der Ersten, der die Regeln des Schachspiels in Form eines Gedichts in Europa beschrieb. So konnte das Nützliche mit dem Angenehmen eine Symbiose eingehen, und dies erklärt die schnelle Verbreitung beider.
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