EDITORIAL

LIEBE LESERINNEN, LIEBE LESER,

kürzlich erhielt ich eine E-Mail von einem Abonnenten. Er berichtete mir vom Chess & Culture Club in Dubai, der eine eigene Spielstätte besitzt, die die Form eines Turms hat. Die Einrichtung ist vom Feinsten. Sogar der Boden ist aus einem speziellen Material gefertigt, das den Schall schluckt, damit die Schachspieler nicht gestört werden. Einzig, dass alle Kreuze auf den Königen abgesägt worden waren, weil das Kreuz ein christliches Symbol ist, hat ihm missfallen. „Wenn man Schach spielt, denkt man doch nicht an Religion“, meinte er.

Nun, wir wollen mit dem vorliegenden Heft genau daran erinnern, dass Schach von jeher religiöse Bezüge hatte. Und das Beispiel aus Dubai zeigt ein schlummerndes Konfliktpotential, das bis in die Gegenwart hinein andauert, wie man am Schach­verbot unter den Taliban in Afghanistan sehen kann.

Ernst Strouhal widmet sich in seinem Beitrag der Frage, ob Schach in einer säkularisierten Gesellschaft ein gottloser Ort ist oder ob auch das Spiel eines der Verstecke Gottes sein könnte, der sich in einer aufgeklärten Welt in Bereichen jenseits der Kirchen Domänen erobert hat, um spirituelle Grundbedürfnisse des Menschen zu befriedigen.

Manch ein Schachspieler wünscht sich gewiss einen schützenden und hilfreichen Beistand – wenn nicht eines Gottes, so doch wenigstens eines oder einer Heiligen. Björn Reich gibt einen Überblick über die göttlichen Schutzmächte der Schächer, unter denen sich die Heilige Teresa von Ávila als „offizielle“ Himmelsvertreterin in den Vordergrund geschoben haben dürfte.

Monotheistische Religionen hatten von jeher ein ambivalentes Verhältnis zum Schach. Einerseits diente das Spiel als Metapher für die göttliche Ordnung, andererseits geriet es immer wieder in die Nähe der Glücksspiele, weil man im Mittelalter begann, Schach um Geld zu spielen. Michael Ehn zeigt in seinem historischen Streifzug durch drei Weltreligionen, wie zunehmend nicht mehr das Schachspiel selbst, sondern seine Begleiterscheinungen in der Kritik standen.

Es gibt nicht viele geistliche Schachspieler, aber einige schrieben sich in die Schachgeschichte ein. Für die Problemisten ist der englische Reverend Henry A. Loveday einer der wichtigsten Impulsgeber gewesen. Er hatte Howard Staunton 1845 zur Veröffentlichung in dessen Zeitschrift The Chess Player’s Chronicle eine später als „Indisches Problem“ bezeichnete vierzügige Aufgabe zugesendet. Das dort vor­kommende Verstellungsmotiv inspiriert seither die Komponisten und ist wohl die am häufigsten anzutreffende Problemidee überhaupt.

Ein anderer Reverend, George Alcock MacDonnell, zählte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den prominentesten Gestalten des viktorianischen Schachs. Er nahm an zahlreichen hochrangigen Schachereignissen teil und stand in Kontakt mit den führenden Spielern seiner Zeit. Durch seine langjährige Schachkolumne und seine Schriften beeinflusste er die öffentliche Meinung, in der er Glorifizierung und Polemik betrieb.

Harry Schaack