DER FALL REUBEN FINE:
GRÖSSE UND WAHN

VON JOHANNES FISCHER

Reuben Fine
Reuben Fine in Semmering-Baden 1937 (aus der Chess Monographie des Turniers, Abb. aller Telnehmer)

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Der amerikanische Groß­meister Reuben Fine spielte im Laufe seiner Karriere 25 Turnierpartien gegen fünf Weltmeister: gegen Emanuel Lasker, José Raúl Capablanca, Alexander Aljechin, Max Euwe und Michail Botwinnik. Mit 7 Siegen, 4 Niederlagen und 14 Remis kommt er auf ein Gesamtergebnis von 14 zu 11, kein anderer Spieler der Schachgeschichte hat gegen Schachweltmeister so gut gepunktet. Außerdem endeten alle fünf dieser virtuellen Wettkämpfe ent­weder Unentschieden oder zugunsten
von Fine – offensichtlich gehörte der Amerikaner zu seinen besten Zeiten zu den besten Spielern der Welt.
Allerdings taucht Fines wohl bekannteste Partie in dieser Weltmeisterstatistik nicht auf, obwohl er sie gegen einen späteren Weltmeister verlor: 1963 spielte Fine eine Reihe von freien Partien gegen Bobby Fischer, und in einer dieser Begegnungen griff Fischer zum Evans-Gambit und gewann in nur 17 Zügen. Berühmt wurde diese Niederlage Fines, weil Fischer sie später zu einer seiner 60 Denkwürdigen Partien erklärte.

Fines Schachkarriere
Fine wurde am 11. Oktober 1914 in New York als Sohn russisch-jüdischer Ein­wanderer geboren und wuchs in bitterer Armut auf, denn als Fine zwei Jahre alt war, verließ der Vater die Familie und Fines Mutter musste alleine für ihn und seine 1912 geborene ältere Schwester sorgen. Schach lernte Fine im Alter von acht Jahren von einem Onkel, doch ernsthaftes Interesse an dem Spiel entwickelte er nach eigener Aussage erst mit 15. Doch dann spielte er im Manhattan Chess Club und im Marshall Chess Club, den beiden größten und bedeutendsten Schachvereinen New Yorks, zahllose Blitzpartien, oft um Geld, um das karge Einkommen der Familie aufzubessern.
1930 folgte Fines erstes ernsthaftes Turnier, das New York Young Masters – es war der Beginn einer steilen und erfolgreichen Karriere: Nur ein Jahr später, 1931, wird er mit einem halben Punkt Rückstand hinter Fred Reinfeld Zweiter der New York State Championship, aber im gleichen Jahr gewinnt er die Meisterschaft des Marshall Chess Club und lässt Reinfeld einen halben Punkt hinter sich. 1932 spielt Fine in Pasadena sein erstes großes internationales Turnier. Er landet mit 5 aus 11 zwar nur auf dem 7. bis 10. Platz, aber kommt in der letzten Runde zu einem Remis gegen den amtierenden Weltmeister Alexander Aljechin. Wenig später besucht Aljechin New York und wie Fine später berichtet, hat er dort mit dem Weltmeister im Marshall Chess Club eine „Reihe von freien Partien gespielt, von denen ich die meisten gewonnen habe. Daraufhin wurde er sehr wütend (er verlor nie gerne) und forderte mich zu einem 10-Sekunden-pro-Zug-Match um 10 Dollar und über sechs Partien heraus. Das war für mich damals eine unerreichbar hohe Summe, aber sie wurde von meinen Anhängern schnell auf­gebracht. Wenn ich mich recht erinnere, gewann er den Wettkampf mit 3,5 zu 2,5. Ich war überrascht, wie wichtig es für ihn war, gegen mich, einen relativ Unbekannten, zu gewinnen, und ich war ebenso überrascht, wie gut ich in den Schnellschachpartien abgeschnitten habe. Jahre später, beim AVRO-Turnier 1938, spielten Aljechin und ich regelmäßig freie Partien für einen Gulden pro Partie (damals 55 Cent), und ich gewann fast jedes Mal. Aber er bestand darauf, immer weiter zu spielen.“ (Bruce Pandolfini, „The Man Who Might Have Been King“, Chess Life 10/1984, S. 26)
Im Jahr 1932 macht Fine auch seinen Schulabschluss und beschließt, Schachprofi zu werden. Er ist erst 18 Jahre alt, aber gilt bereits als einer der besten Spieler der USA und wird nach einem er­folgreichen Qualifikationsturnier für das Olympiateam nominiert. Im Laufe seines Lebens spielt Fine bei drei Olympiaden für die USA, drei Mal gewinnt er dabei Gold mit der Mannschaft, außerdem holt er in Folkestone 1933 Silber für die zweitbeste Leistung am 3. Brett und in Stockholm 1937 Gold für die beste Leistung am zweiten Brett.
Nachdem er in den Jahren 1933 bis 1935 zahlreiche Erfolge bei Turnieren in den USA und Mexiko feiern konnte, versucht Fine sein Glück in Europa. Dort gewinnt er eine Reihe starker Turniere oder landet doch zumindest auf den vorderen Plätzen. 1937 gewinnt Fine in Margate, Ostende und Stockholm, außerdem in Leningrad und Moskau. Damit zählt er zu den wenigen Spielern aus dem Westen, die in der Sowjetunion Turniere gewinnen konnten.
Doch seinen größten Erfolg feierte Fine 1938 beim AVRO-Turnier, dem bis dahin stärksten Turnier aller Zeiten. Wie bei den heutigen Kandidatenturnieren traten hier acht der besten Spieler der damaligen Zeit doppelrundig gegeneinander an. Offiziell war das AVRO-Turnier kein Kandidatenturnier, denn die Organisation der Weltmeisterschaftskämpfe lag noch nicht in den Händen der FIDE, allerdings ging man davon aus, dass der Sieger des Turniers gegen den amtierenden Weltmeister Alexander Aljechin um die Weltmeisterschaft spielen würde. Mit fünf Siegen und einem Remis startete Fine furios, aber verlor dann in der siebten Runde eine wichtige Partie gegen Paul Keres. Am Ende teilten sich Keres und Fine mit je 8,5 aus 14 den ersten Platz, doch dank besserer Sonneborn-­Berger-Wertung wurde Keres zum Turniersieger erklärt.
Gleich in der ersten Runde des AVRO-­Turniers gelang Fine ein eindrucksvoller Sieg gegen Botwinnik, den er in der Er­öffnung überraschte und anschließend positionell überspielte.


FINE
BOTWINNIK
AVRO-Turnier 1938 [C17]


1.e4 e6 2.d4 d5 3.Sc3 Lb4 4.e5 c5 5.dxc5 Diesen selten gespielten Zug hatte Fine für diese Partie vorbereitet, und er erwischt Botwinnik damit auf dem falschen Fuß. 5…Se7 6.Sf3 Sbc6 7.Ld3 d4 8.a3 La5 9.b4 Sxb4 10.axb4 Lxb4 11.Lb5+ Sc6?! Besser war 11…Ld7 z.B. 12.Dxd4 Lxc3+ 13.Dxc3 Lxb5 und Schwarz hat keine Probleme. 12.Lxc6+ bxc6 13.Ta4 Lxc3+ 14.Ld2 f6 15.0–0 0–0 16.Lxc3 dxc3 17.De1


Die Eröffnung lief schlecht für Botwinnik – der Punkt d6 ist schwach, der weiße Springer ist stark und Schwarz hat Probleme, Felder für seinen Läufer zu finden. 17…a5 18.Dxc3 La6 19.Tfa1 Lb5 20.Td4 De7 21.Td6 a4 22.De3 Ta7 23.Sd2! a3 24.c4 La4 25.exf6 Dxf6 26.Txa3 Jetzt hat Weiß einen Bauern mehr und steht auf Gewinn. 26…Te8 27.h3 Taa8 28.Sf3 Db2 29.Se5 Db1+ 30.Kh2 Df5 31.Dg3 In dieser Stellung gab Botwinnik auf. Vielleicht ein wenig früh, aber er ist vollkommen überspielt worden und hilflos gegen Drohungen wie 32.Td7, denn 31…Te7 scheitert an 32.Txa3 und nach 31…Ta7 gewinnt Weiß mit 32.Sxc6 weiteres Material. 1:0

 

Das Ende von Fines Schachkarriere
Doch weder Keres noch Fine bekamen nach dem AVRO-Turnier die Chance,
gegen Aljechin um die Weltmeisterschaft zu spielen, denn 1939 begann der Zweite Weltkrieg und das internationale Schachleben kam fast vollständig zum Erliegen. Fine kehrte wieder in die USA zurück, wo er nach eigenen Angaben von 1939 bis 1941 arbeitslos war. Ab 1941 und während des Krieges arbeitete er für die US-Marine und als Übersetzer, um dann nach dem Krieg eine Laufbahn als Psychoanalytiker einzuschlagen. 1948 pro­movierte er an der University of Southern California mit einer Arbeit über The Personality of the Asthmatic Child, doch er blieb nicht in Kalifornien, sondern kehrte nach New York zurück, wo er sich als Psychoanalytiker niederließ. Im weiteren Verlauf seiner Karriere schrieb Fine zahlreiche Bücher über Psychoanalyse, unterrichtete an acht Universitäten und war unter anderem Vizepräsident der National Psychological Association for Psycho­analysis sowie Direktor des New York Center for Psychoanalytic Training des Center for Creative Living in New York.
Schach spielte er nur noch selten und auch die Einladung zum Weltmeisterturnier 1948 schlug er aus. Aljechin war 1946 als amtierender Weltmeister gestorben und mit diesem Turnier sollte ein neuer Weltmeister gekrönt werden. Als Sieger des AVRO-Turniers 1938 war Fine einer von sechs Spielern, die man zum Weltmeister­turnier einlud, doch wie Fine schreibt, war „ich zu diesem Zeitpunkt bereits in einem anderem Beruf, der Psychologie, engagiert und hatte kein Interesse mehr daran, daran teilzunehmen“. (Bobby Fischer’s Conquest of the World’s Chess Championship, Psychology and Tactics of the Title Match, McKay 1973, Ishi Press 2008, S. 11).
1951 beendete Fine seine aktive Turnierlaufbahn und spielte in den folgenden
Jahren nur noch gelegentlich. Er starb am 26. März 1993 an den Folgen eines Herzinfarktes. Fine war fünf Mal verheiratet und hatte zwei leibliche Kinder und einen Stiefsohn.

(Der Artikel ist auszugsweise wiedergegeben.
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