EDITORIAL
LIEBE LESERINNEN, LIEBE LESER,
Magnus Carlsen sagte kürzlich in einem Podcast, dass die Psychologie ein sehr wichtiger Faktor im schachlichen Spitzensport ist. Weil mittlerweile alle Topspieler dieselben Engines nutzen, sei das Schachwissen etwa ausgeglichen. Deshalb komme dem Mindset entscheidende Bedeutung zu. Man müsse wissen, wann und wie viele Risiken man eingehen darf, um seine Chancen zu nutzen. Wer sich dieser Aspekte bewusst sei, treffe oft bessere Entscheidungen als seine Gegner.
Umso erstaunlicher ist es, dass selbst Weltklasseschachspieler in diesem Bereich immer noch hinterherzuhinken scheinen, während die Sportpsychologie mittlerweile in anderen Sportarten ein Teil des alltäglichen Trainings geworden ist.
Dabei war Schach dank Adriaan de Groot Mitte des letzten Jahrhunderts Ausgangspunkt der Kognitionspsychologie. Die vorliegende Ausgabe versucht, einen Teil der wissenschaftlichen Schachforschung abzubilden.
In unserem Interview mit dem Leiter der Abteilung für Leistungspsychologie an der Deutschen Sporthochschule in Köln, Markus Raab, besprechen wir die Funktion der Intuition beim Schach.
Ausgehend von den Arbeiten von Amos Tversky und dem Nobelpreisträger Daniel Kahneman, die Heuristiken als mentale Abkürzungen beschrieben, die oft zu systematischen Fehlern führen, untersucht Fernand Gobet, wie Schachspieler mit kognitiven Verzerrungen umgehen.
Benjamin Balas beschäftigt sich mit Wahrnehmungsphänomenen. In seinem Beitrag widmet er sich den Unschärfen, die durch das periphere Sehen auftreten und einer der Gründe sind, warum man etwas „übersieht“.
Aber neben dem Einblick in die aktuelle Forschung hat diese Karl-Ausgabe auch großen praktischen Nutzen.
Der Sportpsychologe Benjamin Portheault, der schon mit vielen Großmeistern und der englischen Schachnationalmannschaft zusammengearbeitet hat, gibt in unserem Interview viele Tipps zu schachpraktischen Fragen, die jeden Spieler betreffen.
Karel van Delft bietet einen Überblick über die Vielfalt dessen, was unter Schachpsychologie zu verstehen ist, wobei der Holländer vor allem didaktisch-pädagogische Aspekte im Blick hat. Er zeigt, dass die Forschung auch zu effizienteren Trainingsmethoden geführt hat.
Mihail Marin widmet sich den kleinen und großen psychologischen Tricks und Finten, mit denen man während einer Schachpartie konfrontiert werden kann. Besonders beeindruckt war unser Autor von Kortschnois List.
Zudem gibt es ein Porträt über Reuben Fine. Er zählte zu den besten Spielern der Welt. Ohne den Zweiten Weltkrieg hätte er vielleicht sogar um die Weltmeisterschaft gekämpft. So aber machte er eine zweite Karriere und wurde einer der bekanntesten Psychologen der USA. Dennoch sind seine durch Freuds Psychoanalyse geprägten Ansichten über Weltklasseschachspieler nicht unumstritten, wie Johannes Fischer zeigt.
Schließlich möchte ich mich noch bei Karel van Delft für seine Unterstützung bei der Realisation dieses Heftes bedanken.
Harry Schaack