BEWEGTE BIOGRAFIE

Von Harry Schaack 

Cover Dombrowskys Sämisch Buch

Michael Dombrowsky,
Friedrich Sämisch. Schachkünstler auf 64 Feldern.
Deiningen 2023, Hardcover, 380 S., 49,- Euro

 (Das Rezensionsexemplar wurde freundlicherweise von der Schachversand Niggemann zur
Verfügung gestellt.)

 

Friedrich Sämisch ist gelungen, was den allermeisten Schachspielern versagt bleibt: Er hat sich in die Schachgeschichte eingeschrieben und ist aufgrund „seines“ Systems bis heute „in aller Munde“. Trotzdem war bislang erstaunlich wenig über sein Leben bekannt.

Nach dem Präludium in Karl 1/23, in dem der Autor bereits einige seiner Funde präsentiert hatte, ist nun die umfangreiche Sämisch-­Biografie von Michael Dombrowsky erschienen. Als sich der Autor darüber ärgerte, wie wenig es über eine solche Legende zu lesen gibt, konnte er schwerlich ahnen, dass er am Beginn eines viele Jahre dauernden Forschungsprojektes stand.

Dombrowsky weist schon im Vorwort darauf hin, dass er kein wissenschaftliches Buch ver­fassen wollte, auch wenn seine Erzählung
auf gut recherchierten Fakten beruht. Er wollte vor allem eine „fesselnde“ Geschichte schreiben, die dem Leser eine wechselhafte Vita, ver­worfen durch zwei Weltkriege, plastisch vor Augen führt. Dabei wird ihm der historische Präsenz zum wichtigsten Stilmittel. Wo möglich lässt Dombrowsky seinen Protagonisten durch Artikel und überlieferte Zitate selbst zu Wort kommen. Auch Anekdoten, von denen es über Sämisch so viele wie über wenig andere gibt, lockern den Lebenslauf zuweilen auf. Vielleicht hätte man einige Turnierteilnahmen kursorischer abarbeiten können, auch wenn durch die detaillierte Darstellung die immense und rastlose Schachaktivität Sämischs deutlich wird.

Sämisch spielte zwar einige Jahre bei großen Eliteturnieren mit, doch seine Leistungen waren zu wechselhaft, als dass er sich „ganz oben“ etablieren konnte. Dennoch erreichte er einige große Erfolge, wie den Sieg in Wien 1921 oder den 3. Platz in Baden Baden 1925. 1928, seinem „goldenen“ Jahr, blieb er 45 Partien hintereinander ungeschlagen, Chessmetrics führt ihn 1929 als Zehnten der Weltrangliste.

Sämisch haftet auch etwas Kauziges an: ein Kettenraucher und Kaffeetrinker, der kaum Nahrung zu sich nahm. Schon früh attestierte ihm die Presse eine „unzweckmäßige Lebensweise“ (DSZ), er sei ein „Opfer einer leicht geschürzten Wesensart“ (WSZ) oder auch „Disziplinlosigkeit“ (Aljechin), weil er häufig zehn oder zwanzig Minuten zu spät ans Brett kam und dann in Zeitnot geriet – eine Schwäche, die später zu seinem unrühmlichen Markenzeichen wurde, als er ein Turnier bestritt, in dem er alle Partien durch Zeitüberschreitung verlor. Anderer­seits war Sämisch ein begnadeter Erzähler und großer Kenner der Schachgeschichte, der einen ganzen Saal unterhalten konnte.

Diese Biografie ist auch die Geschichte eines Menschen, der sich durch die Wirren des 20. Jahrhunderts mit dem mühevollen Beruf eines Schachprofis schlägt. Sämisch musste nach dem frühen Tod seines Vaters und aufgrund von Ver­letzungen aus dem Ersten Weltkrieg seinen gelernten Beruf als Buchbinder aufgeben. Dank seiner unermüdlichen Simultan- und Blindsimultan-Vorstellungen überstand er die Hyperinflation 1923. Auch wenn Sämisch zeitlebens in prekären Verhältnissen lebte, auch weil ihm die Beziehung zum Geld fehlte, konnte er sein Leben auf der Grundlage des Spiels irgendwie bestreiten.

Sämisch hatte einen sozialdemokratischer Hinter­grund und eine Abneigung gegen die Nationalsozialisten. Seine Unbedachtheit brachte ihn
einige Male in größere Konflikte, die einmal sogar fast mit seinem Tod geendet hätten, als ihm „Wehrkraftzersetzung“ vorgeworfen wurde. Weil er „unbelastet“ war, bekam er 1950 als erster Deutscher von der Fide den Großmeister­titel zugesprochen. Und ab 1963 war er bis zu seinem Tode zwölf Jahre lang der älteste GM der Welt.

Ulrich Dirr, bekannt für das gediegene Layout vieler Schachbücher, hatte diesmal nicht immer ein glückliches Händchen. Etwas unbeholfen sind die eingeschobenen Partieblöcke, die nicht selten den Lesefluss unangenehm unterbrechen, bei den Partie­kommentaren fehlt gelegentlich die Quelle, und auf S. 48 ist eine Partie nicht vollständig abgedruckt. Der Autor versichert, dass den künftigen Auslieferung ein Errata-Zettel beigelegt wird, um den Fehler zu korrigieren.

Dem gegenüber stehen viele neue Fakten. Auch wenn sich Dombrowsky der wissenschaftlichen Darstellung bewusst entzieht und spärlich seine Quellen preisgibt, ist das reich bebilderte Buch zweifellos das Referenzwerk zu Sämisch. Zahlreiche seiner Funde und Dokumente aus diversen Archiven waren gänzlich unbekannt und haben Licht ins Dunkel dieses Schachlebens gebracht. Und trotzdem gibt es noch einiges herauszu­finden, weiß man doch bis heute nicht einmal, wo Sämisch begraben liegt.