UNIVERSELLE GESAMTSCHAU

Von Harry Schaack

Emanuel Lasker Trilogie, Band 3
Richard Forster, Michael Negele, Raj Tischbierek, Emanuel Lasker, Volume III, Labors and Legacy. Chess, Philosophy, and Psychology, Exzelsior Verlag 2022, Hardcover, 468 S., 64 Euro


 (Das Rezensionsexemplar wurde freundlicherweise vom Exzelsior Verlag zur Verfügung gestellt.)

Mit dem dritten Band der englischsprachigen Emanuel Lasker-Monographie, die kürzlich von den Herausgebern Richard Forster, Michael Negele und Raj Tischbierek vorgelegt wurde, ist das einzigartige Lasker-Projekt nach einer mehr als 15-jährigen internationalen Forschungszusammenarbeit zu Ende gegangen. Mit fast 1350 Seiten ist es die bislang umfangreichste Würdigung des einzigen deutschen Schachweltmeisters. In vielen Punkten geht die englische über die deutsche Lasker-Monographie von 2009 hinaus, weil sie einige Irrtümer korrigiert, viele Aspekte konkretisiert und nicht zuletzt erstmals eine durchgehende Biographie präsentiert.
Laskers Lebenschronologie, die Forster für den dritten Band besorgte und die nun vollständig vorliegt, schließt nicht nur allerlei Lücken, sie ist auch eine Art Bewegungsdetektor, der erstmals durchweg erkennbar macht, wo sich Lasker zu einem bestimmten Zeitpunkt aufgehalten hat. Der dritte Band beschäftigt sich mit dem Zeitabschnitt vom Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 bis zum Tod Laskers 1941 in New York – und macht deutlich, wie eng das Leben dieses Weltbürgers mit den politischen Verwerfungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbunden war. Forster teilt auch weniger bekannte Informationen mit, wenn er etwa untersucht, ob der Vorwurf von Laskers Geldgier berechtigt gewesen ist. Er kommt zu dem Schluss, dass Lasker die meiste Zeit ein anständiges Mittelklasseleben führen konnte, aber nicht mehr.
Der russische Schachhistoriker Sergei Woronkow schildert in seinem Beitrag Laskers Verhältnis zu Russland, wo er große Anerkennung genoss. Aufgrund seiner finanziellen Situation, verschärft durch die Machtergreifung der Nazis in Deutschland, siedelten die Laskers Dank der Vermittlung Iljin-Genewskis 1935 in die UdSSR um. Nachdem Lasker das Turnier in Moskau 1935 gespielt hatte, stimmte das Politbüro seinem Wunsch zu und er erhielt ein 3-Zimmer Apartment mitten in Moskau. In seinem Haus gingen viele prominente Schachspieler und Intellektuelle ein und aus und er hoffte auf eine Art Schachprofessur. Doch schon bald wurde Lasker das Ausmaß des Großen Terrors immer deutlicher. Als sich der Druck auf seinen Unter­stützer Krylenko mehr und mehr erhöhte, geriet Lasker selbst in Gefahr, auch wenn der Autor offenlässt, wie groß sie wirklich war. 1937 verließen die Laskers die Sowjetunion und kehrten nie wieder zurück.
Noch stolzer als auf seine schachlichen oder mathematischen Erfolge war Lasker auf seine philosophischen Gedanken, von denen er sicher war, sie würden sich eines Tages durchsetzen. Jan Sprenger und Marco Baldauf beschäftigen sich mit seinen Schriften, von denen Lasker Die Philosophie des Unvollendbar (1919) als das Wichtigste betrachte. Die Autoren sehen enge Verbindungen zwischen Laskers Art, Schach zu spielen, und seiner Philosophie, die sich vice versa gegenseitig befruchteten. Doch in der Fachwelt wurden seine philosophischen Thesen kaum zur Kenntnis genommen.
Die Autoren werfen Lasker vor, dass dessen originelle Ideen durch die Art der Argumentation, die auf Analogie und Assoziationsketten beruht, untergraben werden. Zudem war sein Schreibstil schwer verdaulich, sein Ansatz zu ambitioniert. Es fehlt eine klare philosophische Methode und sein gelegentlicher Mystizismus erleichtert nicht gerade den Zugang zu seinen Schriften. Lasker wollte Konzepte vereinigen, die schwer zusammenzubringen waren, wodurch es seiner Philosophie an Kohärenz fehlt. Dadurch ist, trotz interessanter Ideen, die Vernachlässigung seines Werks nicht unbegründet. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass Lasker in der Philosophie nicht die Klarheit erreicht hat, die sein Schach oder seine mathematischen Arbeiten auszeichnet, weshalb ihm die Anerkennung in der Disziplin, die ihm am wertvollsten war, versagt blieb.
Ulrich Sieg beleuchtet in seinem Beitrag ein Thema, das bislang noch nicht oft umfangreich erörtert wurde. Er geht der Frage nach, welche Bedeutung seine jüdischen Wurzeln für Laskers Leben hatten. Lasker war typischer Repräsentant des aufgeklärten Judentums. Der liberale jüdische Wertekanon formte sein philoso­phisches Denken und ließ ihn skeptisch werden gegen politische Ideologien. Im Gegensatz zu Tarrasch, der für jüdische Assimilation und Integration in der deutsch-christlichen Mittelklasse stand, betonte Lasker stets seine jüdischen Wurzeln und Traditionen.
Sieg weist darauf hin, dass Lasker – weil er sich zwischenzeitlich aufs Schach konzentrierte – erst mit dreißig seine Doktorarbeit schrieb, die zudem nur „magna (anstatt „summa“) cum laude“ ausfiel. Und weil er weder ein aka­demisches Netzwerk noch finanzielle Ressourcen besaß, blieb ihm der Zugang zu deutschen Universitäten versperrt.
Fernand Gobet befasst sich mit Laskers Thesen zur Psychologie. Lasker, dem seit Rétis Verdikt die psychologische Spielweise anhaftet, sagte einmal, dass er Züge und Theorien bewerte, nicht Menschen. Dennoch verfasste er 1931 das Typoskript Die Psychologie des Spiels. Obgleich er es mehrfach versuchte, fand er in der Zeit der Weltwirtschaftskrise keinen Verleger dafür.
Für Lasker lehrt das Spiel, wie man mit Chancen umgehen kann, auch im Wirtschaftsbereich, weshalb diese Abhandlung auch eine der frühen spieletheoretischen Schriften ist. Lasker unterscheidet drei Spielertypen: den Experimentierer, den Pedanten und den Romantiker.
Für den Autor, einen Schweizer Kognitionswissenschaftler, ist der Text da am besten, wo Lasker konkrete Beispiele erläutert. Doch er kritisiert vor allem den sperrigen Schreibstil und den Mangel an Struktur, zuweilen sei der Text repetitiv und die Fachliteratur nur mangelhaft ausgewertet worden.
Forster beschäftigt sich mit Laskers zahlreichen Kolumnen. Im Vergleich zu Toni Preziusos Beitrag in der deutschen Biographie von 2009 erweitert Forster den Blick dank neuer digitaler Recherche­möglichkeiten, die nun auch die russischen, hollän­dischen und englischen Kolumnen berücksichtigen.
Im Gegensatz zu Fachzeitschriften erlauben Kolumnen, die gedankliche Entwicklung eines Autors und seine Kommentare zu aktuellen Ereignissen in einzigartiger Weise und Häufigkeit zu verfolgen. Wenngleich Laskers Kolumnen hinsichtlich der Qualität erheblich schwanken, hat er mit seiner Spalte in Der Rekord (1913-14) ein neues Format geschaffen: Ein vorangestelltes Zitat einer schachlichen Autorität dient ihm zum Ausgangspunkt freier, oft philosophischer Reflexionen. Und Laskers Texte aus der Vossischen Zeitung von 1914-19 gelten als der Beginn seines politischen Denkens, kosteten ihn jedoch wegen seiner chauvi­nistischen Darstellungen im Ausland viele Sympathien.
Für die vorliegende Ausgabe ist Egbert Meissenburgs Bibliographie aus der deutschen Ausgabe von 2009 aktualisiert worden. Sie zeigt die enorme weltweite Verbreitung von Laskers Schriften. Sein Gesunder Menschenverstand, der sogar ins Bengalische und Isländische übersetzt wurde, sowie das Lehrbuch des Schachspiels, das auch in Georgisch, Hebräisch und Mongolisch vorliegt, fanden die weiteste Verbreitung.
Herbert Bastian untersucht die didaktischen Qualitäten in Laskers schachlichen Schriften. Das Lehrbuch des Schachspiels von 1926 ist Laskers Opus Magnum im Schachbereich. Es ist die Frucht jahrelangen Nachdenkens über die Essenz des Schachspiels und wie man es lehren kann. Bastian meint, das Lehrbuch gibt eine neue Definition von „Kombination“, die bis heute gültig ist. Laskers erstmalige systematische Untersuchung betrat neuen Boden und war ein bedeutender Beitrag zum Thema. Als Pionier zeigt sich Lasker auch, wenn er den Fokus auf die Vorbereitung taktisch vorteilhafter Stellungen legt oder sich über die Verbindung von strategischem mit taktischem Spiel Gedanken macht.
Laskers pädagogische Hauptabsicht bestand darin, seine Schüler zu einem kritischen Geist und unabhängigem Denken zu erziehen. Laut Bastian könne sowohl das Lehrbuch als auch Laskers erstes Schachbuch Der gesunde Menschenverstand (1896) noch heute empfohlen werden, besonders für Leser, die bereits gute Schachkenntnisse besitzen und eher an philosophischen Interpretationen und Implikationen interessiert sind als an unmittelbaren Turnier­erfolgen.
Mihail Marin widmet sich Laskers erstaunlichem schachlichen Alterswerk. Nach neunjähriger Pause kehrte Lasker 1934 im Alter von 66 Jahren in Zürich wieder in die Turnierarena zurück und spielte dann noch drei weitere Turniere. Zwar siegte er immer noch zuverlässig gegen die Schwächeren, aber gegen die Besten blieb sein Erfolg bescheiden. Das gilt allerdings nicht für Moskau 1935, wo der 67-Jährige Dritter wurde und noch einmal einen grandiosen Turniererfolg feierte. Marin kommt nach seinen Analysen zu einem verblüffenden Ergebnis: Moskau 1935 sei die bemerkenswerteste Leistung im Leben Laskers gewesen. Er habe akkurater und stärker gespielt als zu den Zeiten, als er Weltmeister war.

Diese englische Monographie zeigt das Leben eines Mannes mit vielfältigen Betätigungen, in dem sich auch die Geschichte seiner Zeit spiegelt. Forster fasst Laskers Persönlichkeit in seinem Epilog in nuce zusammen. Er beschreibt ihn als talentiert und brillant, mit einem erstaunlich weiten Interessengebiet und großen Ambitionen, aber auch als gänzlich unpraktisch. Vier Mal in seinem Leben hat er schwerwiegende materielle Verlust hin­nehmen müssen. Seine Tragik war, so Forster, dass er zwar aus purer Notwendigkeit Schachprofi wurde und dann den Thron errang, und dass er gelegentlich brillante und originelle Ideen in der Wissenschaft formulierte, dass er aber nie ein akademisches Fundament gefunden hat und ihm eine Festanstellung versagt blieb.
Auch wenn Laskers Leben mit den nun vorliegenden Bänden weitgehend ausgeleuchtet scheint, weist Forster dennoch auf die immer noch vorhandenen Desiderate hin, die zusammenhängen mit dem bei einigen Privatsammlern liegenden, für die Forschung bislang unzugänglichen Material, besonders einem Teil des Briefwechsels Laskers mit seiner Frau. Mehrere Abschnitte von Laskers Leben sind noch nicht vollständig geklärt, wie etwa seine ersten Schachturniere, seine ökonomische Situation während des Ersten Weltkriegs, die Motive für die große Investition seines Anwesens in Thyrow und anderes mehr.
In der Gesamtschau von Laskers Ideenwelt wird nun deutlich, dass es zwischen seiner schachlichen, politischen und philo­so­phischen Anschauung eine kongruente Verbindung gibt und sich sein Denken aus dieser Perspektive besser verstehen lässt.
Diese wunderbare dreibändige Monographie, die auch durch das sorgfältige Layout und die ungezählten zeitraubend bearbeiteten Fotos von Ulrich Dirr gefällt, zeigt einmal mehr, dass Lasker zwar Schachspieler, aber vielmehr eine universelle, schillernde Persönlichkeit war.