EIN FAST PERFEKTES MATCH
MIHAIL MARIN über den schachlichen Verlauf des WM-Matches 1972 Spasski – Fischer, die Vorbereitung und Matchstrategien der Kontrahenten sowie den analytischen Schattenkampf des Herausforderers gegen Geller.
Übersetzung aus dem Englischen: Harry Schaack
(Der Artikel ist auszugsweise wiedergegeben.
Den ganzen Text lesen Sie in KARL 3/22.)
Vor einem halben Jahrhundert, im Alter von sieben Jahren, hatte mich ein mächtiger Virus namens Schach infiziert. Das Match des Jahrhunderts, das in dieser Zeit gespielt wurde, trug dazu bei, dass aus dieser schweren Krankheit eine chronische wurde.
Dem Schach wurde in den rumänischen Medien nicht allzu viel Platz eingeräumt, aber über das Match wurde ständig berichtet. Jeden Morgen rief mich mein Vater von seiner Arbeit aus an, um mir die Züge der am Vortag gespielten Partie aus der Zeitung zu diktieren. Ich analysierte die Partien mit aller Sorgfalt, die mir in diesem Alter möglich war, und die Erinnerungen aus jenen fernen Tagen sind nie verblasst. Ich war als Spieler völlig unerfahren, da ich erst ein Jahr später mein erstes offizielles Turnier spielte, so dass meine Eindrücke rein ästhetischer Natur waren und sich auf Bauernstrukturen oder allgemeine Manöver bezogen.
Ich „wusste“ von meinem Vater, dass Fischer gewinnen würde, aber anfangs drückte ich Spasski die Daumen, da er auf dem Foto sympathischer aussah. Im Laufe des Matches wurde ich allmählich zum Fischer-Fan und bin es für den Rest meines Lebens geblieben.
Fünfzig Jahre später werde ich versuchen, einige verborgene Fakten zu enthüllen, die für das Ergebnis des Matchs von Reykjavik 1972 relevant waren.
PROGNOSEN VOR DEM MATCH
Trotz Fischers triumphalen Erfolgen beim Interzonenturnier in Palma de Mallorca 1970 und bei den Kandidatenmatches 1971 war der Ausgang des Wettkampfs 1972 für die breite Masse der Spezialisten und Amateure bei weitem nicht so klar wie für meinen Vater. Viele Kommentatoren waren der Meinung, dass Spasski eine gute Chance hatte, Fischers Traum vom Weltmeistertitel zu zerstören. Für eine solche These gab es eine Reihe von Gründen.
In den vorangegangenen Partien zwischen den beiden großen Spielern hatte Spasski die beiden Partien mit Schwarz remis gehalten und alle drei Partien mit Weiß gewonnen. Einmal hatte er mit dem Königsgambit gewonnen, ein anderes Mal mit einem ehrgeizigen System gegen Grünfeld, das auf einem massiven Vorstoß der Bauern beruhte. Fischer hatte aus der Eröffnung heraus jedes Mal gute Stellungen bekommen, aber die Partien hatten einen dynamischen und leicht irrationalen Charakter. Botwinnik und anderen zufolge war Fischer in Stellungen, in denen er wusste, was zu tun war, sehr stark, aber verwundbar, wenn sich das Spielgeschehen der reinen Logik entzog. Die Sowjets waren zuversichtlich, dass Spasski während des Matches „seine“ irrationalen Stellungen aufs Brett bekommen würde und deshalb Fischer seine Stärken nicht ausspielen könne.
Zwar erwähnte Botwinnik auch, dass Fischer alles kenne, was in der Schachliteratur geschrieben worden sei, und er sich deshalb nur selten auf unbekannte Stellungen einlasse. Aber dies war wohl ein Urteil, das auf Partien vor Spasskis letztem Sieg über den Amerikaner im Jahr 1970 beruhte. Fischers Spiel hatte sich seither gewandelt. Deshalb warnte Kortschnoi die sowjetischen Schachfunktionäre und Spasski selbst, dass Fischers Fortschritte in den Jahren vor dem Reykjavik-Match so abrupt waren, dass es schwierig war, seine Spielstärke im Jahr 1972 adäquat zu beurteilen.
Tatsächlich gelang es Fischer in den meisten Matchpartien, „seine“ Stellungen zu bekommen, in denen seine klare Logik und seine Rechenkünste es ihm ermöglichten, den Partieverlauf einseitig zu gestalten. Nichtsdestotrotz gestalteten sich die Dinge in einigen wenigen Partien irrational, aber trotz der Hoffnungen der Sowjets hat sie Fischer besser gemeistert als Spasski! Zu dieser Kategorie gehören die 10. Partie, die 13. und die 19. In diesen Partien erzielte Fischer 2,5 aus 3! […]