EDITORIAL

LIEBE LESERINNEN, LIEBE LESER,

wohl über keinen Wettkampf der Schachgeschichte ist so viel geschrieben worden wie über die Weltmeisterschaft 1972 zwischen Spasski und Fischer, die einige als Jahrhundert-Match überhöht haben. Mitten im Kalten Krieg machte sich der Einzelkämpfer Fischer auf, die sowjetische Hegemonie zum Einsturz zu bringen. Es war der erste Titelkampf nach dem Zweiten Weltkrieg, an dem ein Spieler beteiligt war, der nicht aus der UdSSR kam. Eine Geschichte, die viele Implikationen erlaubt und damals journalistisch global begleitet wurde. Anlässlich des 50-jährigen Jubiläums widmet sich diese Ausgabe dem legendären Match in Reykjavik.

Bei der Vielzahl an Publikationen ist es nicht leicht, die damaligen Ereignisse aus einer neuen Perspektive darzustellen. Wir haben uns entschieden, den Wettkampf aus Sicht der UdSSR-Medien zu schildern, die weniger bekannt sein dürfte. So enthüllt unser Autor Wladimir Barski etwa, dass kein sowjetischer Sportjournalist in Reykjavik vor Ort war und dass die wichtigsten Medien des schachbegeisterten Landes den neuen Weltmeister lediglich mit einer Kurzmeldung würdigten.

Mihail Marin lässt noch einmal die schachlichen Höhepunkte des Wettkampfs Revue passieren. Mit modernen leistungsstarken Engines konnte er einige neue Entdeckungen zu den viel analysierten Partien machen. Marin wirft aber auch einen Blick auf die WM-Vorbereitung beider Spieler, auf die Matchstrategie und vor allem auf das Analyseduell zwischen Fischer und Geller, das im Hintergrund der Partien stattfand.

Unser Dank gilt den beiden Philatelisten Hans-Joachim Deuker und David Jarrett, die aus ihren Sammlungen Bildmaterial zur Verfügung gestellt haben. Wohl über kein anderes Schachereignis gibt es so viele Ersttagsbriefe, Turnierstempel, Postkarten und Karikaturen. Einige davon präsentieren wir in dieser Ausgabe.

Sören Bär stellt in unserem Porträt mit Michael Adams den jahrelangen Frontmann des britischen Schachs vor. Der 50-Jährige hat eine enge Verbindung zu Deutschland, gewann mit verschiedenen Bundesligateams insgesamt 16 Meistertitel und spielte häufig bei den großen Turnieren in Baden-Baden, Mainz und Dortmund, wo er 2013 einen seiner bedeutendsten Erfolge feiern konnte.

Jüngst erschien eine monumentale, fast 1000-seitige Arno Schmidt-Biografie. Unser Autor Traian Suttles beschäftigt sich in seinem Beitrag mit einer der Neuentdeckungen dieses Buches: Die ersten Veröffentlichungen von Schmidt waren Schachprobleme!

Gestatten Sie mir noch einen Kommentar zur aktuellen Lage: Wir gehen im Moment unsicheren Zeiten entgegen. Durch den Klimawandel, die Corona-Pandemie und den Ukrainekrieg gerät unser gewohntes Dasein mehr und mehr aus den Fugen. Auch der Schachbereich ist durch dramatische Ereignisse der letzten drei Monate in Schieflage geraten: Ein weiterhin schachlich aktiver Weltmeister kündigt an, seinen Titel nicht mehr zu verteidigen, und bricht damit mit einer über 100-jährigen Tradition; ein
Russe wird erneut zum FIDE-Präsidenten gewählt, trotz all der damit einhergehenden Probleme in der Außendarstellung des Weltschachverbandes; Chess.com übernimmt die Play Magnus Group, sodass eine einzigartige Monopolisierung entstanden ist, die auch in die journalistische Berichterstattung hineingreift; und ein veritabler Betrugs­vorwurf bedroht das Turnierschach im innersten Kern. Hoffen wir, dass wir bald wieder positivere Nachrichten verkünden können und es Kräfte gibt, die zu einer Stabilisierung beitragen – im Schach wie im alltäg­lichen Leben.

Harry Schaack