MIT HARMONIE UND OHNE EILE

Von Harry Schaack

ChessBase Master Class DVD, Vol 14, Vasily Smyslov
Dr. Karsten Müller, Mihail Marin, Oliver Reeh, Yannick Pelletier,
Master Class Vol. 14, Vasily Smyslov,
DVD oder Download, ChessBase 2021,
Deutsch und Englisch, Laufzeit 7 St. 45 Min., 29,90 Euro

 (Das Rezensionsexemplar wurde freundlicherweise von ChessBase zur Verfügung gestellt.)

Rechtzeitig zu seinem 100. Geburtstag erschien jetzt bei ChessBase in der Reihe Master Class, in der Experten den Spielstil der Weltmeister analysieren, eine Monographie zu Wassili Smyslow.
In seiner Jugend war Smyslow ein Taktiker, der sich erst allmählich zu einem universellen Positionsspieler entwickelte. Vor allem mit seiner Endspielstärke machte sich der 7. Weltmeister allerdings schon früh einen Namen. Smyslow war der stärkste Spieler der fünfziger Jahre, gewann 1957 im zweiten Anlauf den WM-Titel gegen Botwinnik, wurde aber ein Jahr später im Revanche-Match postwendend entthront. Mit über 60 Jahren feierte er 1984 ein unerwartetes Comeback, als er noch einmal bis ins Kandidaten­finale vordrang, wo er gegen Kasparow unter­lag.
Smyslow war für sein harmonisches Figurenspiel, seine Endspielvirtuosität und seine taktischen Fähigkeiten berühmt. In der Strategie war er etwas schwächer, weshalb seine Beiträge zur Eröffnungstheorie wenig nachhaltig waren. Smyslow hat sich mit Systemen begnügt, in denen er seine Gegner überspielen konnte. Selten ließ er sich auf theoretische Diskussionen ein. Von seinen Neuerungen haben nicht viele überlebt, auch wenn er im Grünfeld-Inder mit beiden Farben und im Slawen im Schlechter-­System einige nachhaltige Beiträge geleistet hat, meint Yannick Pelletier.
Viele Eröffnungsideen Smyslows sind die Frucht seiner drei WM-Matches mit Botwinnik. Der „Patriarch“ bereitete sich akribisch auf die Wettkämpfe vor und hatte ein besonders starkes Weißrepertoire. Deshalb musste sich Smyslow gerade mit Schwarz originelle Ideen einfallen lassen.
Als Anziehender fühlte er sich besonders in Englischen und in hypermodernen Reti-Strukturen mit Doppelfianchetto wohl, die er immer etwas variierte. Hier führte er beim 3. WM-Match gegen Botwinnik (nach 1.Sf3, 2.g3) gegen Königsindisch 3.b4 in die Praxis ein. Aber auch den Königsbauern zog er häufig und konnte einige Entwicklungen im Franzosen und im Caro-Kann mit beeinflussen. In der Winawer-Variante zeigte er beim WM-Match 1954 gegen Botwinnik richtungsweisende Methoden, die bis heute ihre Gültigkeit haben. Und im Caro-Kann trug er vor allem erheblich zur Popularität der Variante 1.e4 c6 2.Sc3 d5 3.Sf3 bei, die später auch regelmäßig von Bobby Fischer gespielt wurde. Nachdem das System zwischenzeitlich an Beliebtheit verlor, wird es heute wieder von Topspielern angewandt.
Mit Schwarz hat Smyslow gleich drei Abspiele im Spanier eingeführt, eines ist mit seinem Namen verbunden, aber keines davon hat den Test der Zeit bestanden. Nach 1.d4 sind Smyslows Neuerungen dagegen bedeutend gewesen. Im Slawisch entdeckte er mit über 70 Jahren ein System, das später Kramnik in seinem WM-Kampf gegen Topalow 2006 anwandte. Seinen größten Beitrag leistete er jedoch im Grünfeld, wo eine Variante – nicht „unverdient“, wie Pelletier meint – nach ihm benannt ist. „Eine tolle Erfindung“, so Pelletier, die bis heute eines der Hauptsysteme gegen Grünfeld geblieben ist.
Mihail Marin bekennt, dass er Mühe hat, die Strategie und den Spielstil von Smyslow zu beschreiben. Smyslow sei kein reiner Positionsspieler, für den man ihn eigentlich oft hält, weil die Taktik immer untergründig mitwirkt und viele seiner Partien im Mattangriff enden. Aber ein Markenzeichen von Smyslows Stil ist, dass er Vertrauen in langfristige Pläne und vor allem keine Eile hatte.
Im Endspiel zählte Smyslow zu den Größten. Bis zuletzt hat er Studien komponiert, sein mit Löwenfisch geschriebenes Lehrbuch über Turm­endspiele ist bis heute ein Klassiker, den auch Karsten Müller in seinen Videos dem Zuschauer ans Herz legt. Müller präsentiert einige Beispiele aus Smyslows früher Karriere, die zeigen, dass er bereits in jungen Jahren im Endspiel heraus­ragende Kenntnisse besaß. So etwa die Partie Gligoric – Smyslow, Moskau 1947, dessen inten­sives Studium laut Endspielpapst Dworetski ausreicht, um den gesamten Endspielkomplex Turm mit h- und f-Bauern gegen Turm zu verstehen. Smyslow zeigt dort musterhaft, wie sich die unterlegene Partei verteidigen muss. Andere Beispiele, wie das extrem tiefe Läufer-Springer-­Endspiel gegen Botwinnik aus der 17. Partie des WM-Matches von 1957, sind „Meisterwerke, die für immer bleiben werden“, wie Müller konstatiert.
Dazu bietet die DVD noch 25, von Oliver Reeh moderierte, interaktive Taktikaufgaben, eine Biographie, alle Partien Smyslows und eine Zusammenstellung seines Eröffnungsrepertoires.
Eine schöne Jubiläumswürdigung!