ZU JUNG ZUM STERBEN

JIMMY ADAMS über den viel zu jung verstorbenen Gyula Breyer, der mit seinen rebellischen und visonären Ideen nicht nur die Hypermodernen beflügelte.

Übersetzung aus dem Englischen: Harry Schaack

(Der Artikel ist auszugsweise wiedergegeben.
Den ganzen Text lesen Sie in KARL 3/21.)

Gyula Breyer
Gyula Breyer (Foto: © Michael Negele/Sammlung Alexander Rueb)

Gyula Breyer (1893-1921) ist zweifelsohne einer der unbesungenen Helden des Schachs. Obwohl seine Rolle bei der Entwicklung des so genannten „hypermodernen“ Schachs zusammen mit anderen großen Spielern wie Aljechin, Réti, Nimzowitsch, Tartakower und Bogoljubow allgemein anerkannt ist, wurde im Laufe der Jahre nur sehr wenig über sein Leben und sein literarisches Werk oder sogar seinen außer­gewöhnlichen Spielstil geschrieben.
Doch paradoxerweise ist sein Name in der modernen Wettkampfpraxis allgegen­wärtig, was an der anhaltenden Popularität der Breyer-Variante der spanischen Eröffnung liegt. Schwarz macht bereits im neunten Zug einen völlig unerwarteten Rückzug des Springers auf sein Ausgangsfeld, um ihn nach d7 umzugruppieren, von wo aus er das Schlüsselfeld e5 zuverlässiger verteidigt, die Diagonale a8-h1 für seinen Läufer offen hält und danach einen eventuellen Vorstoß mit …d7-d5 unterstützt.
Auch Breyers schockierender Ausspruch: „Nach 1.e2-e4 liegt Weiß in den letzten Zügen“, wird häufig zitiert. Aber all dies sollte nicht überraschen, denn die Provokation war typisch für Breyer, der während seiner gesamten Schachkarriere seltsam aussehende Züge und kontroverse Aussagen machte!
Unter Berücksichtigung von Fragmenten aus Zeitschriften, Zeitungen und Büchern ist es mir gelungen, 2017 die Schach­biografie Gyula Breyer: The Chess Revo­lutio­nary zu veröffentlichen, die in chrono­logischer Reihenfolge mit den Partien verläuft.
Breyers kurze Schachkarriere war eine Achterbahnfahrt, die auf tragische Weise mit seinem frühen Tod an einer Herz- und Lungenkrankheit endete. Sein Leben im Exil und bittere Armut infolge der ver­heerenden Auswirkungen des Ersten Welt­kriegs hatten dazu beigetragen, seine angeschlagene Physis weiter zu verschlechtern. Nichtsdestotrotz arbeitete Breyer, der sich seines fragilen Gesundheitszustands stets bewusst war, mit fieberhafter Intensität, wodurch er trotz der wenigen Jahren seines Schaffens ein reichhaltiges Erbe hinter­lassen hat, in dem sich seine große Kreativität widerspiegelt. Dieses zum Teil vergessene Vermächtnis habe ich aus den Archiven geholt, aus dem Ungarischen und anderen Sprachen ins Englische übersetzt und der Welt zugänglich gemacht.

Breyer trat dem Budapester Schachklub im Alter von achtzehn Jahren bei und machte sofort Eindruck durch seinen unorthodoxen Spielstil und seine ungewöhnlichen Ansichten über das Schachspiel. Wie sich herausstellte, hatte er seine Ankunft auf der Schachbühne perfekt getimt, denn sie fiel in eine Ära, in der die vom „Gesetzgeber“ Dr. Tarrasch aufgestellten Spielprinzipien das letzte Wort im Schach darstellten. Die strikte Befolgung dieser starren Regeln hatte jedoch die Kreativität erstickt und zu einem Übermaß an Routine, blindem Vertrauen in die veröffentlichte Eröffnungstheorie, einer Menge lang­weiliger Partien sowie kurzer Remisen geführt. Es überrascht nicht, dass der Rebell Breyer schwor, etwas gegen diesen traurigen Zustand zu unternehmen, selbst wenn er dafür jede „Regel“ brechen müsste!
Ein tägliches Kontingent von fünfzig Blitzpartien gegen starke Klubmitglieder ermöglichte es Breyer, schnell alles Wesent­liche des vorhandenen Schachwissens in sich aufzunehmen. Bemerkenswerterweise trat er dank seines riesigen Intellekts und eines enormen Naturtalents in weniger als zwei Jahren bereits erfolgreich gegen Weltklasse­spieler in internationalen Turnieren an.
In Bezug auf Kampfgeist, Siegeswillen, kreatives Denken und Unternehmenslust erwies sich Breyer als würdiger Nachfolger des großen Michail Tschigorin. Breyer spielte seine Partien voller Inbrunst, so als ob sein Leben davon abhängen würde.
Doch er begnügte sich nicht damit, Punkte zu machen und Preise zu gewinnen. Er hatte auch immensen wissenschaftlichen Erhgeiz und wollte das ungeheure brachliegende Potenzial des Schachs erforschen, seine Horizonte erweitern, es dorthin bringen, wohin es noch niemand gebracht hatte – an seine äußersten Grenzen!
Seltsamerweise ereignete sich sein Aufstieg in die Weltspitze just im Zeitraum des Ersten Weltkriegs 1914-1918. Weil die inter­nationalen Wettkämpfe fast völlig zum Erliegen kamen, werden diese dunklen Tage normalerweise als eine Zeit der schachlichen Stagnation angesehen. Doch für den Ingenieurstudenten Breyer war es eine Zeit, in der er seine Gedanken sammeln und all die fortschrittlichen Ideen zu Papier bringen konnte, die in seinem fruchtbaren Gehirn zirkulierten. Seine revolutionären Artikel erschienen in der Magyar Sakkvilág und mit brandneuen Eröffnungen, wie der Budapester Verteidigung (1.d4 Sf6 2.c4 e5), debütierte er in seinen Partien bei lokalen Turnieren.
Zwar war es Nimzowitsch, der Dr. Tarrasch öffentlich für seine allzu dogma­tischen Lehren kritisierte. [s. S. 19 f.] Aber es war Breyer, der die Leser einlud, eine „schöne neue Welt“ zu betreten, die von Selbst­vertrauen und logischem Denken, nicht durch sklavisches Auswendiglernen von Zügen oder starren Prinzipien bestimmt ist. Er ging sogar so weit zu sagen: „Wir müssen die tiefgründigen Schach­bücher dazu verurteilen, auf dem Scheiter­haufen verbrannt zu werden! Lasst uns endlich lernen, Schach zu spielen!“
Während Tarrasch die Aufgabe, das Schach­spiel zu beherrschen, durch die Festlegung starrer Regeln und Spielabläufe verein­fachen wollte, strebte Breyer mit seinen außergewöhnlichen Zügen ein kompliziertes Spiel und komplexe Stellungen an, die einen unvorbereiteten Gegner ver­wirren und ihm selbst alle Möglichkeiten eröffnen, die Initiative zu ergreifen.
Breyer praktizierte von ganzem Herzen, was er predigte. Die Aufrichtigkeit und das Selbstvertrauen, die hinter seinen bahn­brechenden Artikeln standen, inspirierten seine Zeitgenossen. Breyer erklärte, dass jede Eröffnungstheorie eine reine Analyse der Ausgangsstellung sei, und so begannen seine eigenen Untersuchungen buchstäblich mit den ersten Zügen. „Wir alle haben von Breyer gelernt“, sagte Réti, der nach Breyers Tod eine ganz neue Eröffnung entwickelte, 1.Sf3, 2.g3 und 3.Lg2, die bis heute seinen Namen trägt. Aber wir sollten nicht vergessen, dass Breyer schon viel früher, während des Ersten Weltkrieges, als Réti noch im älteren klassischen Stil spielte, die Vorteile des Läufer-Fianchettos mit den weißen und schwarzen Figuren verstanden hatte, was damals noch als bizarr galt.
Im vergangenen Jahrhundert wurden Breyers Beiträge zur Entwicklung des Schachspiels, von einigen bemerkens­werten Ausnahmen abgesehen, weitgehend aus den Geschichtsbüchern gestrichen oder auf ein paar Zeilen reduziert. Dabei war es Breyer, der die wahre Bedeutung des dynamischen Schachs aufzeigte, das viele junge Spieler bis heute inspiriert. Seine Thesen unterscheiden sich von den Lehren Nimzowitschs, dessen Schwerpunkt auf Zurückhaltung durch Blockade und Prophylaxe vor dem Übergang zum Angriff lag. Dennoch schätzte Breyer Nimzowitschs Behandlung der zentralen Bauernformationen d3/e4 und e5/d6, die ein stabiles Zentrum bildeten und einen Flankenangriff mit Bauernvorstößen am Königsflügel erlaubten.
Andererseits liebte es Breyer wie Tschi­gorin, seine Truppen hinter einer Bauernphalanx aufzustellen, um Energie zu speichern und geduldig auf den richtigen Moment zu warten, um sie gegen ein bestimmtes Ziel einzusetzen. Aus diesem Grund verglich er sein Spiel mit dem Graben­krieg, genauer gesagt mit „der Schlacht des beweglichen Grabens, der beweglichen Festung und der Panzer“. Dies erklärt seine Vorliebe für Verteidigungen wie Philidor, Französisch, Halbslawisch und sogar Königsindisch, was damals eine Seltenheit war. Im letzten Teil seiner Karriere verfolgte Breyer die gleiche Politik mit den weißen Figuren, indem er 1.d4 d5 2.e3 eröffnete. Tarrasch hätte es sicher nicht gutgeheißen, den Damenläufer auf diese Weise zu blockieren.
Obwohl die Hypermodernen die Kontrolle anstatt der Besetzung des Zentrums propagierten, bildete dies nur einen Teil von Breyers eigener Theorie. Sein Hauptziel in der Eröffnung war es, Positionen zu schaffen, in denen er als Weißer die Initiative und als Schwarzer Gegenspiel erlangen konnte. Er brachte seine Bewunderung für Aljechin zum Ausdruck, der die Fähigkeit besaß, Züge zu spielen, mit denen der Gegner nicht rechnete, nicht nur in der Eröffnung, sondern in jedem Stadium der Partie. Auch Breyer hatte diese Fähigkeit. Als er einmal über die Ästhetik des Schachs sprach, unterstrich er diesen Aspekt, indem er sagte: „Die Schönheit im Schach ist das Ungewöhnliche”.

(Der Artikel ist auszugsweise wiedergegeben.
Den ganzen Text lesen Sie in KARL 3/21.)