EDITORIAL

LIEBE LESERINNEN, LIEBE LESER,

die Hypermoderne entstand in einer Zeit des Aufbruchs. Während und mehr noch mit dem Ende des Ersten Weltkriegs entstanden in vielen Bereichen des Lebens wie der Kunst, der Wissenschaft oder der Philosophie neue Strömungen. Auch das Schach war davon nicht ausgenommen.
Die Schule der Hypermodernen wollte das Schach revolutionieren. Savielly Tartakower spricht 1925 im Vorwort zu seinem namensgebenden Werk Die Hypermoderne Schachpartie von einer „geistigen Umwälzungslawine im Schachleben“. In seinem eigenwillig pathetisch-blumigen Schreibstil nennt er diese Hypermodernen „Schachfakire“ und „neue Argonauten“, die „alle Hebel der Ueberlieferung, alle Stützen der Schablone, alle Wurzel des Autoritätsglaubens“ losreissen und das „stolze Schiff der Göttin Caissa im Ozean namensloser Eröffnungen schwimmen“ lassen.
Vor allem die neuen Eröffnungsideen torpedierten frühere Auffassungen und Grundsätze, wie sie noch von Tarrasch vertreten wurden. Die Bedeutung des Zentrums spielte nur noch eine untergeordnete Rolle, die dynamischen Elemente des Spiels schoben sich in den Vordergrund.
Das vorliegende Heft beschäftigt sich mit dieser spannenden schachhistorischen Phase, diesem Versuch einer schachlichen Erneuerung, weil sich gleich mehrere Ereignisse jähren: Vor hundert Jahren starb Gyula Breyer, Aljechin verteidigte sich erstmals auf 1.e4 mit 1…Sf6 und Ernst Grünfeld beschäftigte sich schon 1921 mit der nach ihm benannten neuen Eröffnungswaffe, die er im März 1922 in die Turnierpraxis ein­führte.
Fünf der wichtigsten Hypermodernen – Nimzowitsch, Grünfeld, Tartakower, Breyer und Réti –, die auch in diesem Hefte eine prominente Rolle spielen, zieren unser Cover.
Willy Hendriks beschäftigt sich mit den Schriften, in denen vor allem Réti, Tartakower und Nimzowitsch zu den Vorreitern und Verteidigern ihrer „modernen“ Ideen wurden. Er kann zeigen, dass sich die Hypermodernen jedoch nicht durch eine einheitliche, konsistente Auffassung auszeichneten, was es schwierig macht, einen einzigen, klar definierten Stil zu erkennen.
Auch Mihail Marin zeigt anhand zweier berühmter hypermoderner Gewinnpartien, dass eine Abgrenzung zwischen den Hypermodernen und den „klassischen“ Meistern äußerst schwierig ist. Sowohl Capablanca als auch Aljechin hatten neue dynamische Ideen verinnerlicht, ohne sich von den Hypermodernen vereinnahmen zu lassen.
Michael Ehn beschäftigt sich mit der eröffnungstheoretischen Wahrheitssuche Ernst Grünfelds, dessen Tragik darin lag, dass er die Bedeutung und das Potential des vor fast 100 Jahren erstmals von ihm gespielten und nach ihm benannten Abspiels letztlich nicht erkannte.
Gyula Breyer, der vor 100 Jahren viel zu früh verstarb, war vielleicht der eigentliche Avantgardist. Seine Erfindung, der Springerrückzug in dem nach ihm benannten Spanischsystem, hat den Test der Zeit überstanden und wird bis heute gespielt. Mit seinen visionären Ideen wurde er zum Vater der Hypermodernen, ohne den eigentlichen Ruhm der Bewegung noch erleben zu können, wie sein Biograf Jimmy Adams in seinem Artikel zeigt.

Harry Schaack