UNTERSCHÄTZTER RIESE

Von Harry Schaack

Titelcover CB-DVD Tigran Petrosian

Mihail Marin, Karsten Müller, Yannick Pelletier, Oliver Reeh,
Master Class Vol. 13: Tigran Petrosian,
ChessBase 2020, DVD, Spielzeit: 6 St.,
29,90 Euro

(Das Rezensionsexemplar wurde freundlicherweise
von ChessBase zur Verfügung gestellt.)

Tigran Petrosjan zählt zu den wohl am meisten unterschätzten Weltmeistern. Seine allzu große Friedfertigkeit, seine relativ geringe Anzahl an Turniersiegen und der Umstand, dass er in seiner Regentschaft die Schachwelt nicht dominierte, sondern nur ein Primus inter Pares war, mögen diesen Eindruck unterstützt haben. Dabei ist der gebürtige Armenier ein positioneller und strategischer Gigant. Seine sichere Spielweise, seine Antizi­pation gefährlicher Situationen sowie seine außer­gewöhnlichen Defensivfähigkeiten machten ihn in Wettkämpfen zu einem kaum zu schlagenden Gegner.
Die neue ChessBase Master Class-DVD widmet sich dem 9. Weltmeister und unterzieht seinen eigenwilligen Spielstil, der mit seinem Charakter korrespondiert, einer detaillierten Analyse.
Yannick Pelletier beschäftigt sich mit der Eröffnung. Er beschreibt Petrosjan als einen „Spieler“, der die Auseinandersetzung der Ideen am Brett sucht, und keinen „Wissenschaftler“, der sich akademisch mit der Theorie auseinandersetzt. Deshalb war Petrosjans Einfluss auf die Eröffnungstheorie ziemlich gering.
Und doch sind mehrere Systeme mit seinem Namen verbunden. Ein Markenzeichen Petrosjans war der Zug Lg5, der auch ein Schlüsselzug in der nach ihm benannten Variante im Königsinder ist. Diese Struktur verstand Petrosjan so gut, dass er irgendwann einmals scherzte, Königs­indisch habe seine Familie ernährt. Auch im Damen­inder ist ein Abspiel nach ihm benannt, wobei Pelletier darauf hinweist, dass andere Spieler größere Verdienste um diese Variante haben.
Sein größter Beitrag zur Theorie mit Schwarz bestand darin, gezeigt zu haben, wie man sich im Angenommen Damengambit sicher und solide verteidigt. Auf 1.e4 hatte Petrosjan eine große Breite an Antworten zur Verfügung. Pelletier meint aber, dass dies auch eine seiner Schwächen war, weil er sich nie entscheiden konnte, auf welches Abspiel er sich konzentrieren soll. Dies wurde ihm in Wettkämpfen gegen große Spieler zum Verhängnis. Hätte Petrosjan damals schon die Berliner Verteidigung gekannt, so Pelletier, hätte er wohl keine andere Erwiderung auf 1.e4 gebraucht.
Mihail Marin meint, dass man von niemanden so viel über Strategie erfahren kann wie von Petrosjan. Eines seiner Markenzeichen war das Qualitätsopfer. Marin betont jedoch, dass diese Opfer kein taktisches Mittel waren. Vielmehr verwandelte Petrosjan damit dynamische Stellungen in statische. Er stellte seine Figuren gerne auf Felder, wo sie nicht angegriffen werden konnten und von wo aus sie die Stellung dominierten. Die Qualitätsopfer dienten nur dazu, diesen Zweck zu erfüllen.
Petrosjan hatte auch ein untrügliches Gefühl für schlecht stehende Figuren. Botwinnik sagte einmal, dass Petrosjan Partien gewinnen konnte, ohne zu rechnen und das machte ihn faul, weshalb er nicht noch mehr erreicht hat.
Marin meint, dass er Petrosjans Spielstil langweilig fand, als er als Jugendlicher erstmals mit ihm konfrontiert wurde. Erst später verstand er, dass dieser langsame Partiefluss, der einer inneren Logik und Harmonie folgt, ein großes ästhetisches Vergnügen ist.
Dass Petrosjan aber auch glänzende taktische Kombinationen spielen konnte, zeigt Oliver Reeh an interaktiven Beispielen.
Im Endspiel strebte Petrosjan gewöhnlich Raumvorteil an und schränkte das Potential der gegnerischen Figuren ein, wofür er ein besonderes Auge hatte, wie Karsten Müller meint. Sehr stark war er in der Realisierung statischer Vorteile. Und im Endspieltyp TS gegen TL, bei dem der Springer besser als der Läufer ist, hat er so viele Musterpartien gespielt, dass Müller vorschlägt, von Petrosjan-Anderssen-Endspielen zu sprechen.
Die DVD ist ein Beitrag zur Ehrenrettung eines immer noch unterschätzten Weltmeisters.