EDITORIAL
LIEBE LESERINNEN, LIEBE LESER,
wir leben in einer Zeit der Superlative: ein Neunjähriger, der Großmeister in Turnierpartien schlägt. Ein 13-Jähriger, der ein riesiges, hochklassig besetztes Open gewinnt. Ein 16-Jähriger, der ein Blitz-Match gegen den Weltmeister für sich entscheidet – noch nie in der Geschichte des Spiels gab es eine so große Schar an Schachwunderkindern wie in unseren Tagen.
Durch die Corana-Krise ist das Turnierschach für Monate gänzlich zum Erliegen gekommen. KARL hat die Zeit des Shutdowns genutzt, um eine Bestandsaufnahme der momentanen ThronanwärterInnen durchzuführen. Wir begaben uns auf die Suche nach den größten Talenten unserer Zeit, befragten Fachleute aus mehreren Ländern und stellen einige der heißesten Kandidaten in diesem Heft vor.
Es ging uns auch um die Frage, welche spezifischen Bedingungen die Entwicklung der Talente in den führenden Schachnationen begünstigen. Joel Benjamin berichtet für uns über die USA, wo der Nachwuchs damit kämpfen muss, sich gegen die superstarken Platzhirsche durchzusetzen. Zhang Zhong nennt für die Vorherrschaft der chinesischen Frauen u.a. die traditionellen gemischten Trainingsgruppen. Aus Indien erzählt Adhiban Baskaran über Sponsorenverträge im Kindesalter. Mit Kazem Motazawi schildert einer der Väter der schachlichen Revolution im Iran, welche Faktoren für die Leistungsexplosion der neuen Schachgeneration verantwortlich waren. Und Wladimir Barski zeigt, dass Russland bei der Vergabe höchster Weihen immer noch ein Wörtchen mitzureden hat, auch wenn das Land weit von der Dominanz vergangener Tage entfernt ist.
Auch in Deutschland haben wir im Moment mit Vincent Keymer ein Ausnahmetalent, das es bis ganz nach oben schaffen kann. Im KARL-Interview spricht Artur Jussupow über die Perspektiven des 15-Jährigen, über nachhaltige Talentsichtung und warum die jüngste Spaltung zwischen DSB und DSJ einer effektiven Jugendleistungsförderung im Wege stehen könnte.
Auf unserem Titelcover sind einige der künftigen WM-Anwärter abgebildet, die auch die heutige Globalität des Schachs widerspiegeln, denn alle acht „Kandidaten“ kommen aus verschiedenen Ländern. Wir sind gespannt, ob einer oder eine davon irgendwann den Titel erringen kann. Doch so gut diese Jugendlichen jetzt schon sein mögen, der Aufstieg bis ganz nach oben hängt von vielen Faktoren ab. Erst die Zukunft wird weisen, wie sehr sich die Qualitäten dieser Supertalente entfalten können.
Die vorliegende Ausgabe ist somit ein Dokument internationaler Zusammenarbeit, ein Porträtheft mit einer Liste erstaunlicher Rekorde und nicht zuletzt eine Sammlung brillanter Partien.
Harry Schaack