EDITORIAL

LIEBE LESERINNEN, LIEBE LESER,

vor 80 Jahren am 19. September endete die Schacholympiade in Buenos Aires. Es war in vielerlei Hinsicht eine der bemerkenswertesten Veranstaltungen in der Geschichte des Nationenwettstreits. Der Herbst-Karl widmet sich diesem Jubiläum.

Das „Völkertreffen“, wie man damals sagte, wurde vom Beginn des Zweiten Weltkriegs überschattet, als Deutschland am 1. September 1939 Polen überfiel. Es ist eine seltsame Koinzidenz, dass die beiden Nationen, die in direkte Kriegshandlungen verwickelt waren und deren Teilnehmer sich vielleicht unter anderen Umständen auf dem Schlachtfeld gegenüber gestanden hätten, in Buenos Aires um den Turniersieg kämpften.

Das großdeutsche Team, das nach dem „Anschluss“ mit deutschen und österreichischen Spielern an den Start ging, gewann schließlich mit der letzten Partie denkbar knapp. Es ist bis heute der einzige Sieg einer deutschen Mannschaft bei einer offiziellen Schacholympiade.

Drei der Teilnehmer des Siegerteams stellen wir näher vor: Tim Hagemann beschreibt, warum diese Schacholympiade einen Bruch in der Karriere des deutschen Spitzenspielers Erich Eliskases bedeutete. Friedrich-Karl Hebeker widmet sich Ludwig Engels, der mit seinem Brettpreis maßgeblich zum Erfolg Deutschlands beitrug. Und Michael Ehn wirft einen Blick auf den ambivalenten Lebenslauf des deutschen Teamcaptains Albert Becker, der zwischen Präzision und Auslassung verlief.

In Buenos Aires 1939 fand das erste Mal eine Schacholympiade außerhalb Europas statt. Unser Titelbild zeigt die Teilnehmer der Schacholympiade auf der Piriápolis, dem Schiff, mit dem fast alle Europäer die Atlantiküberquerung, die Zweig zu seiner Schachnovelle inspirierte, bestritten. Der Spielort fernab Europas machte es überhaupt erst möglich, die Veranstaltung nach Kriegsausbruch zum Abschluss zu bringen. Für viele Teilnehmer, die nicht mehr zurück konnten oder wollten, wurde Südamerika zu einer biografischen Zäsur und zu einer neuen Heimat. Michael Dombrowsky erzählt in seinem Beitrag viele der kleinen und größeren menschlichen Geschichten am Rande der Schacholympiade, bei denen augenfällig wird, wie sehr Einzelschicksal und Weltgeschichte in diesem Moment miteinander verknüpft waren.

Trotz der düsteren politischen Vorzeichen nahm das Turniergeschehen einen so spannenden Verlauf, wie man ihn kaum je später gesehen hat. Über die vielen Besonder­heiten, die dieses Turnier prägten, und die Protagonisten wie Aljechin und Capablanca, der in Buenos Aires seinen letzten internationalen Auftritt hatte, berichtet Mihail Marin.

Der Sieg des großdeutschen Teams mag in Deutschland Kriegseuphorie und Größenwahn noch geschürt haben. Tatsächlich aber markierte er lediglich den Beginn eines Untergangs.

In eigener Sache: Am 19. Juli ist unser langjähriger Karl-Kolumnist Wolfram Runkel verstorben. Ulrich Stock hat den Nachruf auf seinen Kollegen von der ZEIT verfasst und einen Blick auf ein ereignisreiches, bewegtes und erfülltes Leben geworfen.

Harry Schaack