EDITORIAL

LIEBE LESERINNEN, LIEBE LESER,

der Bauer ist die schwächste Figur im Schach, und doch drückt er dem Spiel seinen Stempel auf. Von ihm gibt es so viele wie von keinem anderen Stein, weshalb die Bauern für die Struktur sorgen, die maßgeblich den Spielverlauf bestimmt. Als einzige Figur hat er drei verschiedene Zugmöglichkeiten, aber er blickt nie zurück. Der Bauer kann unterschiedliche Formen annehmen, weshalb es für ihn eine ganze Reihe von Bezeich­nungen gibt, vom Rand-, Frei- über den Doppel- und Tripel­bauern, bis hin zu den hängenden, rückständigen und isolierten Bauern. Außerdem kann er vergiftet sein. Im Verbund können die Bauern zuweilen sogar der Dame Paroli bieten. Zudem ist der Bauer wandlungsfähig, und wenn es gut läuft, kann er zur stärksten Figur werden. Trotzdem trennt man sich von ihm am leichtesten, oft schon in der Eröffnung mit einem Gambit. Doch nicht selten ist der Verlust eines Bauern gleichbedeutend mit dem Verlust einer Partie. All das macht den Bauern vielleicht zur interessantesten Figur des Schachspiels. Von einigen seiner zahlreichen Facetten handelt dieses Heft.

Dass ein Bauer nicht immer ein Bauer ist, zeigt Gerald Hertneck in seinem Beitrag, der für eine differenziertere Betrachtung der Bewertung durch Bauerneinheiten plädiert. Mihail Marin erläutert in seinem Artikel über Doppelbauern, wie unterschiedlich sich diese wichtigste Form der strukturellen Beschädigung auf das Spiel auswirken kann. Seine Beispiele machen deutlich, wann ein Doppelbauer eine Stärke und wann eine Schwäche ist. Johannes Fischer hat einige ungewöhnliche Beispiele für kraftvolle Freibauern zusammengestellt. Erik Zude, der mit Jörg Hickl ein viel­beachtetes Werk über die Macht der Bauern geschrieben hat, erklärt anhand der Karlsbader Struktur, wie sich an einer Bauernkonstellation die strategischen Pläne orientieren und wie unterschiedlich sie sein können. Dem ästhetisch besonders reizvollen Thema der Unterverwandlung widmet sich der renommierte Problem­komponist Yochanan Afek. Gerade in Studien ist dieses Motiv sehr beliebt, doch Afek kann auch einige Beispiele aus der Praxis ins Feld führen.

Michael Negele hat einen anderen Zugang zu unserem Schwerpunkt gefunden. Er schreibt über die Familie Paulsen, aus der mit Wilfried und Louis, der eine Zeitlang Weltranglistenerster war, gleich zwei gute Spieler hervorgegangen sind. Weniger bekannt ist, dass Wilfried Paulsen ein äußerst erfolgreicher Kartoffelbauer war, der eigene Sorten züchtete und für seine Verdienste ausgezeichnet wurde. Diese Erfolge in Beruf und Schachspiel erklären sich vielleicht auch mit dem Motto, das die gesamte Familiengeschichte charakterisiert: erst die Pflicht, dann das Vergnügen.

Bleibt noch auf die vom Schachmagazin Karl mitorganisierte Podiumsdiskussion mit dem Titel „Sportsgeist – Geistessport?“ zu verweisen, die am 30. Oktober in der evangelischen Akademie auf dem Frankfurter Römerberg stattfindet und der Frage nachgeht, inwieweit Schach Sport ist. Einen detaillierteren Veranstaltungshinweis finden Sie auf S. 10.

Harry Schaack