GELUNGENE HOMMAGE
Von Harry Schaack
Master Class, Band 7:
Garry Kasparov,
von Dorian Rogozenco, Dr. Karsten Müller, Mihail Marin, Oliver Reeh,
ChessBase DVD,
Deutsch/ Englisch,
9 Stunden Spielzeit,
29,90 Euro
(Das Rezensionsexemplar wurde freundlicherweise von ChessBase zur Verfügung gestellt.)
ChessBase stellt in der Reihe Master Class die Stärken und Schwächen der Weltmeister vor, wobei unterschiedliche Autoren die verschiedenen Spielbereiche besprechen. Kürzlich erschien der siebte Band, in dem Garri Kasparow im Mittelpunkt steht.
Ein Grund für Kasparows Überlegenheit lag in seiner phantastischen Eröffnungskenntnis, die lange Zeit all seinen Gegnern weit überlegen war. Rogozenco zeigt, dass Kasparow schon sehr früh, noch als Kind, ein überaus feines Gefühl für taktisch-dynamische Eröffnungen entwickelte. Doch erst als er sich Anfang der achtziger Jahre für die Kandidatenmatches qualifizierte, baute er ein systematisches Eröffnungsrepertoire auf. Mit Weiß wechselte er vollständig zu 1.d4 und mit Schwarz wurde die Tarrasch-Eröffnung seine Hauptverteidigung. Zu jener Zeit genoss sie keinen guten Ruf, aber Kasparow fand viele neue Ressourcen und schmiedete eine mächtige Waffe, die er in seinen Zweikämpfen mit großem Erfolg gegen Beljawski, Kortschnoi und Smyslow einsetzte. Schon damals wird deutlich, wie weitreichend Kasparows Eröffnungsideen sind, die für die weitere Entwicklung dieser Variante einen großen Impuls gaben. Erst Karpow gelang es, Kasparow in dieser Variante die Grenzen aufzuzeigen, als er die siebte und neunte Partie im ersten K&K-Match gewann.
1990 sieht Rogozenco den zweiten großen Umbruch in Kasparows Repertoire. Im fünften Match gegen Karpow spielte er mit Weiß fast ausschließlich 1.c4. Mit Schwarz war seit Ende der Achtziger Königsindisch seine Lieblingseröffnung geworden, mit der er etliche spektakuläre Siege erreichte und die er in allen Abspielen zu einem scharfen Schwert machte. Seine Erfolge waren so groß, dass Weiß nach Alternativen suchte. Aber erst als er 1997 im Hauptsystem von Kramnik mit b4 bezwungen wurde, legte Kasparow Königsindisch ad acta, weil er offenbar kein zufriedenstellendes Mittel gegen den weißen Aufbau fand.
Obwohl Kasparow fast zwei Jahrzehnte seine Dominanz in der Eröffnung demonstrierte, war bei seinem Wettkampf 2000 gerade dieser Bereich seine Achillesferse. Kramnik setzte ihm nicht nur die Berliner Verteidigung vor, sondern entschärfte auch seinen Grünfeldinder. Es war das einzige Mal in Kasparows Karriere, dass er in einem Match im Eröffnungsbereich von seinem Gegner völlig überspielt wurde.
Kasparows Einfluss auf die Eröffnungstheorie war gewaltig. Er brachte die Vorbereitung auf ein bis dahin unbekanntes Niveau, entwickelte zahllose neue Ideen und machte etliche Abspiele populär. Seine Neuerungen waren so tief, dass sie die nächste Generation weiterbenutzen konnte. Oft führten sie zu ganz neuen Bewertungen von Varianten oder ließen Abspiele gänzlich aus der Praxis verschwinden. Rogozenco hält die Entdeckung des Potentials der Schottischen Verteidigung, die er im WM-Match gegen Karpow 1990 wieder salonfähig gemacht hatte, für Kasparows größten Eröffnungsbeitrag.
Mihail Marin macht deutlich, dass positionelles und strategische Spiel nicht unbedingt die Eigenschaften sind, die man mit dem 13. Weltmeister assoziiert. Kasparow neigte dazu, die erste Möglichkeit zu taktischen Verwicklungen zu nutzen, was gelegentlich voreilig war.
Objektiv betrachtet hätten die Gegner einige Male die Partien noch retten können. Einzig gegen Karpow änderte Kasparow seinen Spielstil, denn ihn konnte man nicht so leicht mit einem Angriff erschrecken. Deshalb zwang sich Kasparow in den Matches gegen Karpow dazu, auf dem rein positionellen Pfad zu bleiben.
Es gibt einige Beispiele, bei denen man den Eindruck hat, beide würden mit vertauschten Farben spielen. In der 19. Partie des zweiten K&K-Matches war z.B. Kasparows positioneller Triumph in psychologischer Hinsicht vorentscheidend, weil er seinen Gegner auf dessen ureigenem Terrain besiegt hatte.
In der Kategorie Taktik hat Oliver Reeh eine relativ leichte Aufgabe. Es ist eher eine Qual der Wahl, aus dem reichen Œuvre Kasparows passende Beispiele auszuwählen. Weniger bekannt ist, dass Kasparow auch ein Endspielexperte war, wie einige schöne Beispiele von Karsten Müller in Erinnerung rufen.
Müller bespricht in einem weiteren Kapitel Kasparows Duelle gegen Maschinen. Er erläutert, wo die Schwächen der Computer lagen, wo es Programmierfehler gab, welche Figuren überbewertet wurden und warum die Engines diese oder jene Züge bevorzugten. Welche Schlüsse das Deep Blue-Team aus dem ersten Wettkampf zog und welche Bewertungsfunktionen es änderte, erklärt der Hamburger Großmeister ebenso plastisch, wie einige Züge Kasparows, die er gegen einen Menschen nie gespielt hätte. So gab der Rechner in der ersten Partie des zweiten Matches 1997 nach einem sinnlosen Schlusszug auf. Kasparow dachte jedoch, der Rechner habe erkannt, dass die Stellung bereits für ihn verloren war, obwohl die Realisation des Vorteils noch sehr kompliziert gewesen wäre. Tatsächlich beruhte der Schlusszug des Rechners auf einem Bug, also einem Programmierfehler. Dieses Missverständnis führte dazu, dass Kasparow in der Folge die Fähigkeiten des Rechners überschätzte. Als Deep Blue in der zweiten Partie einen Bauerngewinn verschmähte und stattdessen einen positionellen Zug machte, war Kasparow irritiert. Wenig später gab er eine Stellung auf, in der er noch gute Remischancen gehabt hätte, weil er dachte, der Rechner habe den Gewinn bereits „gesehen“. Als Kasparow später das Dauerschach entdeckte, glaubte er, dass Menschen in die Zugentscheidungen des Rechners eingegriffen hatten, was ihn völlig aus dem Gleichgewicht brachte.
Die letzte Partie verlor Kasparow auf bis heute nicht ganz geklärte Weise. Vermutlich – so Müller – wollte er den Rechner früh aus dem Buch bringen. Nach dem ungenauen Zug h6 spielte Deep Blue überraschend Sxe6, ein starkes positionelles Opfer. Wie dieser Zug in Deep Blues Eröffnungsrepertoire gekommen ist, ist laut Müller bis heute unbeantwortet geblieben.
Zum Lieferumfang dieser überaus sehenswerten DVD gehören auch eine Kurzbiographie, Turniertabellen, 575 Trainingsfragen, alle Partien Kasparows, viele davon analysiert, sowie sein Eröffnungsrepertoire als Variantenbaum. Die Darstellung ist sehr gelungen und insbesondere Rogozencos kenntnisreiche Ausführungen im Eröffnungskapitel sowie Müllers Blicke hinter die Kulissen der Computerwettkämpfe sind sehr erhellend. Eine gelungene Hommage an den vielleicht besten Spieler aller Zeiten, die in keinem Schachregal fehlen sollte.