BUCH DER UNRUHE
Von Harry Schaack
Robert Hübner,
Elemente einer Selbstbiographie,
Edition Marco 2015,
145 S., Hardcover,
20,00 Euro
(Das Rezensionsexemplar wurde freundlicherweise von der Edition Marco zur Verfügung gestellt.)
Der Titel schürt vielleicht etwas zu viele Erwartungen, jedenfalls bei Schachspielern. Elemente einer Selbstbiographie nennt Robert Hübner sein kürzlich erschienenes Buch. Doch auch wenn er in der Öffentlichkeit vor allem als der beste deutsche Schachspieler seit Lasker wahrgenommen wird, findet sich in diesem Werk nur wenig Schachliches. – Und man beginnt zu ahnen, dass die Fremd- und die Eigenwahrnehmung Hübners zwei völlig verschiedene Dinge sind.
Schon im Vorwort schreibt der Autor, dass diese Textsammlung Versuche sind, „sich in der verwirrenden Welt zurechtzufinden“. Doch nimmt der Verfasser in der ihm eigenen Art sein Scheitern schon vorweg: „Er müht sich, irgendwo Halt zu gewinnen – aber offenbar ohne großen Erfolg.“
Es sind kurze Landschaftsbeschreibungen, Reiseerlebnisse, Texte, die Hübner als Vorträge gehalten hat, Gedanken über die Sprache. Genuin ist den Texten das Spannungsverhältnis zwischen einer feindlichen äußeren Welt und einem bedrohten Individuum. In der Natur muss Hübner festen Stand finden, will er beim Wandern durch widriges Gelände nicht straucheln. Eine Flugreise wird ebenso zur Prüfung wie eine Bahnfahrt, in der sich Hübner in einer technisierten und in Einzelbereiche zersplitterten Welt behauptet – eine Welt, in der das Ganze längst aus den Augen verloren wurde. Zum Teil gelingt es Hübner, die Situationskomik pointiert zu treffen, doch meist durchweht seine Schilderungen etwas Schwermütiges.
Die Lektüre offenbart eine andere Seite Hübners, etwas über seine Person, ohne dabei Lebensdaten zu bemühen und jenseits seines schachlichen Ausnahmetalentes. Es sind lesenswerte Weltbeschreibungen, die einen Teil der vielen Talente Hübners offenbaren, der Papyrologe, Maler, Dichter, Schreiber, Philosoph und Philologe ist, und der eine Vielzahl von Sprachen beherrscht.
Die verstreuten Texte sind im Laufe von 40 Jahren entstanden. Oft sind sie nicht länger als zwei, drei Seiten. Schach kommt nur selten vor, etwa wenn Hübner die Euphorie um das Match zwischen Kasparow und Deep Blue nicht verstehen kann. Ein Zukunfts- und Technikpessimismus ist allen Texten eigen. „Vermehrte Hilfsmittel“ solle man nicht mit „großer Einsicht und vertiefter Erkenntnis“ verwechseln, heißt es einmal.
Deshalb steht Hübner auch den Schachcomputern kritisch gegenüber, weil durch ihre Vorschläge das eigene Denken verengt wird und die Befriedigung über Geleistetes weit geringer ausfällt. Unabhängigkeit im Denken wird zunehmend schwieriger. Die modernen Hilfsmittel nehmen dem Menschen allzu oft „etwas Erfreuliches“, sei es das unschuldige Spiel, sei es das eigenständige Denken. Sie werden Hübner zum Prokrustesbett, das den Geist einschränkt und damit die menschliche Entfaltung.
Wie in Hübners ausgedehnten schachlichen Analysen geht es ihm auch in seinen Texten um Sinn und Wahrheitssuche. Schon der Titel des Buches verweist auf den kritischen Umgang mit Sprache: Keine Auto-, sondern eine Selbstbiographie. Die Sprache ist dem Philologen aus Köln der wichtigste Zugang zur Welt. Deshalb weigert er sich permanent, die Gegenwarts- und Alltagssprache zu akzeptieren.
Wie schwer sprachliche Kommunikation ist, demonstriert Hübner im Beitrag „Mühen des Übersetzens“, wo er zu dem Schluss kommt: „Das traurige Ergebnis der Übersetzung ist eine Aneinanderreihung von Fehlern, Mängeln, Schwächen und Unzulänglichkeiten.“
Hübners Antwort auf diese Welt voller rätselhafter Hindernisse ist Ironie, zuweilen auch Humor. Gelegentlich lassen sich in seinen Texten Vorbilder erkennen. Manchmal steht Kafka Pate (wie in Professor Gumpfl, der eine Pille erfindet, die jeden alle Sprachen sprechen lässt), ein anderes Mal bemüht er den Sokratischen Dialog.
Hübners Blick ist stets forschend, beobachtend, analysierend, auch wenn Logik oft zu keiner gewünschten Auflösung in Fragen menschlichen Zusammenlebens führt. Oft gelingt es Hübner nicht, Teil von etwas zu werden, oft bleibt er außerhalb, isoliert. Deshalb wird der Artikel über das Verhältnis von „Ich“ und „Wir“ hinsichtlich Inhalt, Länge und Platzierung zu einem zentralen Text dieser Anthologie. Und den Leser wundert es nicht, dass das Buch mit Pieter Bruegels „Turmbau zu Babel“ endet.
Das schön gebundene Buch aus der Edition Marco ist sehr lesenswert für all jene, die an dem Menschen interessiert sind, der hinter der außerordentlichen Schachpersönlichkeit steht.