EINE LEGENDE WIRD SECHZIG

TIBOR KÁROLYI, Verfasser der kürzlich veröffentlichten zweibändigen Partiensammlung und eines viel beachtetes Endspielbuches über den 12. Weltmeister, schildert für KARL die glänzende Schachlaufbahn Anatoli Karpows.

Übersetzung aus dem Englischen von Harry Schaack

(Der Artikel ist auszugsweise wiedergegeben.
Den ganzen Text lesen Sie in KARL 3/11.)

Anatoli Karpow in Mainz bei den Chess Classic 2005
Karpow 2005 in Mainz bei den Chess Classic (Quelle: Harry Schaack)

Anatoli Jewgenjewitsch Karpow feierte am 23. Mai dieses Jahres seinen sechzigsten Geburtstag. Alle Weltmeister sind große Spieler, aber der zwölfte Champion hat eine noch glänzendere Bilanz als die meisten seiner Kollegen vorzuweisen. Es ist schwer, ihn richtig einzuordnen, aber meiner Ansicht nach waren nur Bobby Fischer und Garri Kasparow bedeutendere Spieler als er. Und Karpows Regentschaft von 1975 bis 1985 liegt genau zwischen diesen beiden. Er hat eine ganze Reihe von Rekorden aufgestellt: Niemand hat mehr Turniersiege als er erreicht, keiner spielte mehr WM-Matches. Sein Sieg in Linares 1994 mit unglaub­lichen elf Punkten aus 13 Runden gilt nach wie vor als das beste je erzielte Einzelresultat. Kein Weltmeister hat in klassischen Partien gegen einen anderen Amtsinhaber ein so deutliches Ergebnis erzielt wie er gegen Boris Spasski (15:2 Siege). Wahrscheinlich ist er der Spieler, der das meiste Geld mit Schach verdiente. Zudem glaube ich, dass kein anderer Weltmeister so viele Interviews wie er gegeben hat. Und schließlich sind nach keinem Schach­spieler mehr Schachschulen benannt worden als nach ihm.

Ich schätze mich glücklich, drei Bücher über Karpow geschrieben zu haben. 2007 publizierte New In Chess Endgame Virtuoso – Anatoly Karpov , das ich mit Co-Autor Nick Aplin verfasst habe. Und 2011 erschien die zweibändige Partiensammlung Karpov’s Strategic Wins (s. S. 61) bei Quality Chess. Ich habe mehr als 250 Partien Karpows teils sehr umfangreich analysiert. Viele dieser Partien sind so interessant und reich an Ideen, dass ihr hoher künstlerischer Wert jedem Betrachter eine tiefe, lang anhaltende Freude bereitet. Und Karpow hat in seiner Karriere enorm viele Meisterstücke produziert.

DER BEGINN

Anatoli Karpow wurde am 23. Mai 1951 in Slatoust im Ural geboren. Karpows Mutter hatte einen Universitätsabschluss in Ökonomie, sein Vater war Ingenieur, der für seine Innovationen mehrere Auszeichnungen erhielt. Wegen seines Erfolges stieg er zum Chef des Betriebes auf. Die Familie muss also für sowjetische Verhältnisse einen recht guten Lebens­standard gehabt haben.

Sein Vater war kein schlechter Amateur. Er brachte seinem Sohn das Schachspielen bei, als er vier Jahre alt war. Später schrieb ein Kommentator einmal über eine Stellung, Anatoli würde nicht einmal gegen seinen Vater in ein Remis ein­willigen. Karpow reagierte darauf und meinte, gegen seinen Vater hätte er das Remis akzeptiert.

Die Sowjetunion bot damals ein einzigartiges Schachumfeld. Die Schachkultur war sehr hoch. Es gab viele gute Schachkolumnen, Schachsendungen im Fernsehen, präsentiert von starken Spielern wie Kotow oder Lilienthal, eine Masse an sehr preiswerten Schachbüchern und viele Clubs. Karpow mangelte es daher kaum an guten Gegnern, an denen sich sein Talent entwickeln konnte.

Im Alter von sieben wurde er Kategorie 3-, mit neun Kategorie 1-Spieler. Seine ersten Partien in den Datenbanken stammen aus dem Jahr 1961, da war er zehn. In diesen frühen Partien kann man bereits Zeichen seines speziellen Talentes erkennen. Allerdings denke ich nicht, dass er mit seiner damaligen Leistungsfähigkeit heutzutage eine U12-Weltmeisterschaft gewinnen würde. Sein Eröffnungsrepertoire war verglichen mit heutigem Standard zu bescheiden, aber seine Endspielkenntnisse waren schon recht fortgeschritten.

ERSTER SCHACHLEHRER

Mit zehn Jahren begann Karpow mit Leonid Gratwol zu arbeiten, der in der 100 km entfernten regionalen Hauptstadt Tscheljabinsk den Pionierpalast leitete. Gratwol war ein starker Spieler, einige Male Meister von Tscheljabinsk und ein erfolgreicher Jugendtrainer. Sieben seiner Schüler wurden Großmeister, darunter Sweschnikow und Timoschenko. Seine starke Mannschaft konnte sogar die Sowjetische Schülermeisterschaft gewinnen. Gratwol arbeitete dreieinhalb Jahre mit Karpow zusammen. Sein sehr positioneller Stil scheint auf seinen jungen Schüler einen nachhaltigen Eindruck ausgeübt zu haben. Karpow wird später sagen: „Gratwol zwang seinen Schülern nie einen bestimmten Blickwinkel auf, sondern versuchte, die Eigenheiten aller seiner Junioren herauszuarbeiten, um ihr spezifisches Talent nicht zu verschwenden.” Die Arbeit trug schnell Früchte, denn mit elf war Karpow Meisteranwärter.

Die Sowjetunion erstreckte sich über zwei Kontinente. Deshalb gab es eine ganze Reihe Events für Spieler aus weit ent­fernten Gebieten, die sich in diesen Turnieren weiter­entwickeln und Titel erringen konnten. Dieses Netzwerk ermöglichte professionellen Trainern, rasch Talente auch aus abgelegenen Regionen zu entdecken. Auch Karpow fiel auf und erhielt 1963 eine Einladung in die Botwinnik Schule. Allerdings war der Patriarch nicht sehr beeindruckt von dem Nachwuchsspieler aus Slatoust und meinte: „Der Junge hat nicht die geringste Ahnung vom Schach und in diesem Bereich gibt es keine Zukunft für ihn.“ Nichtsdestotrotz schrieb Karpow später, dass die Hausaufgaben, die Botwinnik ihm gestellt habe, eine große Hilfe waren, weil er sich fortan mit Schachbüchern beschäftigte und fleißig arbeitete.

Wie Botwinnik kanzelten auch viele seiner späteren Kontrahenten Karpow allzu schnell als unspektakulären Spieler ab. Für diese Fehleinschätzung zahlten viele seiner späteren Kontrahenten den Preis. Weder Spasski noch Kortschnoi oder später Kasparow waren fähig, seine Spielstärke und seinen Stil auf Anhieb richtig einzuschätzen.

So schlecht kann Karpow damals jedenfalls nicht gewesen sein, denn 1964 spielte er gegen Botwinnik im Rahmen eines Uhrensimultans Remis. Karpow verlor zwar einen Bauern, doch später stellte Mihail Moisejewitsch die Dame ein, konnte aber aufgrund seiner aktiven Figuren noch das Unentschieden retten.

In diesen Jahren waren Karpows Eröffnungen wenig modern, er spielte z.B. noch nicht den offenen Sizilianer. Andererseits zeigen einige seiner Partien bereits seine spätere Entschlossenheit.

1965 zog Karpows Familie ins knapp 200 km von Moskau entfernte Tula, wo sein Vater fortan arbeitete. Die Familie lebte ein Jahr in einem Hotelzimmer. Erstmals sind Karpows Partien aus dieser Zeit in den Datenbanken gut dokumentiert. Er nahm an allen sowjetischen Juniorenmeisterschaften teil und erzielte achtbare Ergebnisse, ohne jedoch aus der Masse hervorzustechen. Dennoch erschien in diesem Jahr im Shakhmatni Bulletin seine erste veröffentlichte Partie.

ENTWICKLUNG ZUM SOWJETISCHEN MEISTER

1966 machte Karpow weitere Fortschritte. In diesem Jahr präsentierte der Informator erstmals eine Partie von ihm und er schlug seinen ersten Großmeister. Wichtiger noch: Er wurde „Meister“ im Alter von nur fünfzehn Jahren und stellte damit den von Spasski gehaltenen Rekord ein. Im Leningrader „Meister“ gegen „Meisterkandidaten“-Turnier lag Karpow zwei Punkte über der Norm. Auch sein Er­gebnis in der Sowjetischen U18-Meisterschaft war respektabel. Sein erstes internationales Turnier spielte er in der Tschechoslowakei, wo er gleich seine Überlegenheit demonstrierte und klar gewann.

1966 entschied Karpow mehr als die Hälfte seiner Partien zu seinen Gunsten. Es war allerdings auch schon zu erkennen, dass er im Gegensatz zu Fischer oder

Kasparow durchaus bereit war, einige schnelle Remisen einzuflechten, wenn es ihm im Turnier nützlich schien. Dies ist vor allem durch seine physische Konstitution zu erklären, denn Karpow war klein und schwächlich.

1967 konnte er sich zwar nicht für die Junioren-Weltmeisterschaft qualifizieren, holte aber bei der Europäischen Juniorenmeisterschaft seinen ersten internationalen Titel.

Anatoli Karpow 1
Karpow 2010 in Dortmund (Quelle: Harry Schaack)

 

JUNIORENWELTMEISTER & FURMAN

1969 war ein bedeutendes Jahr für Karpows Schachkarriere. Er qualifizierte sich für die Juniorenweltmeisterschaft. Kurz vor Beginn des Turniers begann die Kooperation mit Semjon Furman. Karpow arbeitete mit vielen Trainern, doch niemand hatte einen so großen Einfluss wie Furman. Er war nicht nur ein außergewöhnlicher Trainer, sondern auch ein enorm starker Spieler. An vielen Sowjetischen Meisterschaften hat er teilgenommen und kann Siege gegen fast alle großen Spieler seiner Zeit vorweisen.

Um den Kontakt zu vertiefen, zog Karpow nach Leningrad, wo Furman lebte. Furmans schachlicher Einfluss kann schwerlich überschätzt werden. Aber als gebildeter älterer Mentor dürfte er darüber hinaus kulturell auf seinen jungen Schüler eingewirkt haben.

Die Zusammenarbeit trug sofort Früchte. Die UdSSR war zwar die dominierende Schachnation jener Zeit, aber seit Spasski 1955 den Juniorenweltmeistertitel geholt hatte, gab es keinen Erfolg mehr in diesem Bereich. 1969 beendete Karpow diese Durststrecke. Nach einer durchwachsenen Vorrunde siegte er überzeugend. Um sich für die Finalrunde zu qualifizieren, bedurfte es jedoch einer herkulischen Anstrengung, um ein Endspiel mit zwei Minusbauern gegen Torre zu halten. In den Siebzigern, als er schon Weltmeister war, bezeichnete er diese Partie in einem Interview als die härteste und wichtigste seiner Karriere.

GEREIFTER SPIELER

Nachdem Karpow 1970 bei der Russischen Meisterschaft und in einem GM-Turnier in Caracas überzeugen konnte, verlieh die FIDE dem Neunzehnjährigen den Großmeister-Titel. Er war damit zu jener Zeit der jüngste Titelträger der Welt. Die Feuer­probe bestand er etwas später, als er sein erstes Finale der Sowjetischen Meisterschaft bestritt. Seine 12/21 be­deuteten den 5.-7. Platz und zeigten, dass Karpow vom Junior zum erwachsenen Spieler gereift war.

Ein Jahr später verbesserte er sein Resultat und holte 13/21, wobei er schon große Persönlichkeiten wie Taimanow und Stein schlagen konnte. Seine erste Begegnung mit einem Weltmeister endete jedoch gegen Smyslow mit einer Nieder­lage, doch die zweite gegen Tal hielt er Remis. Sein vierter Platz war ein ausgezeichnetes Resultat, aber 1971 nicht sein bestes.

WELTKLASSERESULTATE

Zusammen mit Stein gewann er sein erstes Weltklasseturnier in Leningrad mit 11/17. Dieses Ergebnis ließ keine Zweifel mehr, dass ein neuer Topspieler die Turnierarena betreten hatte. Zum Abschluss des Jahres teilte er mit Kortschnoi, der ihn in der letzten Runde besiegte, den ersten Platz in Hastings.

Diese großen Erfolge Karpows wurden allerdings überschattet. Die Schachöffentlichkeit blickte weniger auf ihn als auf Bobby Fischer, der gerade eine der faszinierendsten Siegesserien der Schachgeschichte hinlegte. Zwanzig Partien in Folge konnte er für sich entscheiden. Viele seiner Opfer waren Weltklassespieler. Der Amerikaner war nach seinen vernichtenden Siegen in den Wettkämpfen gegen Taimanow (6:0), Larsen (6:0) und Petrosjan (6,5:2,5) eine ernste Bedrohung für die sowjetische Hegemonie geworden. Alle großen sowjetischen Spieler jener Zeit waren schon um die vierzig. Die Sowjets brauchten unbedingt einen Newcomer, der das Potential hatte, in naher Zukunft Fischer Paroli zu bieten. Karpow schien der aussichtsreichste Kandidat, weshalb die Verantwortlichen keine Mühen scheuten, den künftigen Champion mit allen Mitteln zu unterstützen.

1972 konnte Karpow mit Smyslow erstmals einen Weltmeister besiegen. In Skopje nahm er das erste Mal an einer Olympiade teil. Sein Debüt war beeindruckend. Mit 13 Punkten aus 15 Partien war er nicht nur einer der Garanten für die Goldmedaille der UdSSR, sondern gewann auch den Brettpreis.

Karpow schloss das Jahr beim extrem stark besetzten Turnier in San Antonio ab. Er blieb ungeschlagen und teilte mit 10,5/14 gemeinsam mit Petrosjan und Portisch den Turniersieg. Bei dieser Gelegenheit traf Karpow erstmals Bobby Fischer, der als frischgebackener Weltmeister dem Turnier einen Besuch abstattete.

WELTMEISTERKANDIDAT

Sein erstes Turnier 1973 in Buda­pest spielte Karpow nicht schlecht, aber auch nicht herausragend. Bei uns in Ungarn hält sich das Gerücht, dass Geller nach dem Turnier den sowjetischen Botschafter traf und ihm stolz mitteilte, er habe gewonnen. Daraufhin beschimpfte ihn der Botschafter und meinte, Karpow hätte das Turnier ge­winnen sollen. Ich weiß nicht, ob die Geschichte stimmt, aber sie zeigt, wie sehr die Sowjets einen adäquaten Gegner für Fischer suchten.

Als man mit der Suche nach dem nächsten WM-Herausforderer begann, äußerte Karpow – vermutlich um den enormen Druck von sich zu weisen – dass dies noch nicht sein Zyklus sein werde. Realistisch betrachtet muss er sich jedoch schon einiges ausgerechnet haben, denn er war bereits der Zweitplatzierte der Weltrangliste.

Für das Interzonenturnier in Leningrad sekundierten Karpow neben Furman auch Rasuwajew und Balaschow. Mit 13,5 Punkten aus 17 Partien triumphierte er am Ende ungeschlagen, gemeinsam mit Kortschnoi. Der Co-Sieger erwähnte allerdings in einem seiner Bücher, Tal habe mit einer Qualität mehr „nicht sein Bestes“ gegen Karpow gegeben. Es ist schwer zu beurteilen, was passiert ist. Vielleicht hatte Tal einfach nur das Interesse an der Stellung verloren, vielleicht haben aber auch die Funktionäre Tal gedrängt, die Qualifikation ihres hoffnungsvollsten Spielers nicht zu gefährden. Wie viele abgesprochene Partien es in der Sowjetunion gab, werden wir nie erfahren. Auch Kasparow schrieb darüber nahezu nichts, vielleicht aus Loyalität gegenüber seinen Kollegen. Ich kenne einen sehr starken Großmeister, der damals in der Armee diente und den die Verantwortlichen einmal „baten“, gegen Karpow zu verlieren. Inwiefern Karpow darin involviert war und wie oft so etwas vorgekommen ist, kann nicht mehr festgestellt werden. Doch selbst wenn das einige Male passiert ist, demonstrierte Karpow immer wieder, dass er das Zeug zu einem großen Spieler hat. Übrigens ist es einfach, solch ein Verhalten zu verurteilen, wenn man nicht in der Sowjetunion gelebt hat.

Jedenfalls bestätigte Karpow seine Leistung mit einem geteilten 2.-5. Platz bei der UdSSR-Meisterschaft. 1973 machte Karpow einen großen Schritt nach vorne und war für viele in den anstehenden Kandidatenmatches der Favorit.

(Der Artikel ist auszugsweise wiedergegeben.
Den ganzen Text lesen Sie in KARL 3/11.)