EIN VEREIN MIT TRADITION UND EIGENSINN

Die Schachgemeinschaft 1871 Löberitz zählt zu den ältesten Schachvereinen in Deutschland. Nur in wenigen Klubs wird die Tradition so hoch gehalten wie hier. Der Vorsitzende Konrad Reiß hat die Vereinsgeschichte akribisch aufgearbeitet und sorgt dafür, dass sie einen Fortgang findet. Eine Reportage über einen engagierten Verein.

Von Harry Schaack

(Der Text ist folgend auszugsweise wiedergegeben.
Den ganzen Artikel lesen Sie in KARL 3/07.)

Gedenkstein für Ohme
Denkmal für den Gründer der SG Löberitz (Foto: Harry Schaack)

Löberitz im Landkreis Bitterfeld ist ein kleines Dorf, gelegen zwischen Halle, Wolfen und Dessau. Keine 1100 Seelen wohnen hier. Rund um Löberitz ist nicht viel. Ein beschaulicher Landstrich, der ein Beispiel ist für die schwierige Situation, in der sich Sachsen-Anhalt befindet. Hier gibt es nur wenige Beschäftigungsmöglichkeiten. Die Menschen ziehen weg, dorthin, wo es mehr zu tun gibt. Landflucht ist eines der größten Probleme, mit denen das ärmste Bundesland Deutschlands zu kämpfen hat. Seit der Wende haben etwa eine halbe Million Menschen das Land verlassen. Prognosen zufolge soll der Einwohnerschwund auch in den nächsten Jahren anhalten. Dazu gesellen sich die höchste Arbeitslosigkeit und eine Wirtschaft, die tief in der Krise ist – Aufschwung Ost ist hier noch nicht recht angekommen.

Dabei kann das Land auf eine reiche Tradition zurückblicken. Zeugnisse der Zeit, als die Region des heutigen Sachsen-Anhalts eines der Zentren deutscher Kulturgeschichte war, gibt es viele: die Merseburger Zaubersprüche, die Dome zu Magdeburg und Naumburg, Luthers Wittenberg, der Wörlitzer Park, das Bauhaus in Dessau – und vielleicht auch die Schachgemeinschaft 1871 Löberitz.

Einem heutigen Besucher geht es vermutlich kaum anders als seinerzeit dem Herausgeber der Deutschen Schachzeitung Dr. Constantin Schwede. Als er 1874 Löberitz für zwei Tage besucht, erwartet er auf dem Lande tiefste Finsternis. Bei seiner Ankunft ist er über die Schachbegeisterung der Löberitzer überrascht und die Begegnung hinterlässt einen „höchst angenehmen Eindruck“. Ein zweites Ströbeck sei Löberitz, notiert Schwede später.

Auf den ersten Blick deutet wenig darauf hin, dass hier eine lebendige Schachkultur gepflegt wird. Doch dann wundert man sich über den aufwendigen, aus Granit gefertigten Gedenkstein, der mitten im Ort zu finden ist. Ein Denkmal für den Gründer eines Schachvereins? Noch irritierender mag sein, dass gerade eine Turnhalle den Namen „Dr. Emanuel Lasker“ trägt. Spätestens beim Anblick des prächtigen Vereinsheims kommt man ins Staunen. Gleich mehrere Räume im Seitenflügel eines ehemaligen Rittergutes gehören dem Klub. Sie sind gut ausgestattet und vollgestopft mit Objekten einer schachlichen Vergangenheit, die bis in die jüngsten Tage reicht. Im Spielsaal fallen zwei Schachbretter mit Unterschriften von bedeutenden Großmeistern auf. In einer Vitrine stehen etliche schwere Folianten – die Chronik des Vereins. Begonnen im Gründungsjahr und fortgeführt bis heute, umfassen die Aufzeichnungen mittlerweile 38 Bände und über 10.000 Seiten. Ein Ende ist nicht absehbar. Denn alles, was innerhalb eines Jahres im Verein passiert, findet Eingang ins Jahrbuch.

Löberitz Bibliothek
Schachvitrine mit der Löberitzer Vereinschronik (Bild: Harry Schaack)


Vieles, was hier entstanden ist, ist dem Vorsitzenden des Klubs, Konrad Reiß, zu verdanken. Ein Mann, der sich seit drei Jahrzehnten unermüdlich um seinen Verein bemüht und dafür sorgt, dass das schachliche Treiben in voller Blüte steht. 1978 begann er als Übungsleiter. Zu dieser Zeit war die Pracht der vergangenen Tage schon längst verblichen. Nach den erfolgreichen Anfangsjahren dümpelte das Löberitzer Schachleben seit dem Ersten Weltkrieg dahin. Ganz eingeschlafen ist es nie, aber in jenen Jahren spielte man nur noch nach der Übungsstunde im Gesangsverein. Ein richtiges Vereinsleben existierte nicht mehr, weshalb auch die Gleichschaltung der Nationalsozialisten an Löberitz vorbeiging.

Nach 1945 scheiterten mehrere Versuche, die Schachbegeisterung wieder in Gang zu bringen. 1948 entstand ein allgemeiner Schachzirkel und in den Sechzigern gründete sich eine Sektion Schach innerhalb der Betriebssportgemeinschaft Traktor. Doch erst mit der „Arbeitsgemeinschaft Schach“, die Konrad Reiß 1978 ins Leben rief, kehrte der Enthusiasmus früherer Tage zurück. Anlass dazu war die starke Schulschachgemeinschaft im benachbarten Zörbig, die viele Erfolge feierte. Rasch wuchs der Kreis der Interessierten an. Innerhalb weniger Jahre nahmen mehr als 40 Kinder am Spielbetrieb teil.

1983 kam es zur offiziellen Gründung der „Schachgemeinschaft 1871 Löberitz“, die als Rechtsnachfolger des früheren Schachvereins fungierte. Ein nicht einfaches Unterfangen, denn die Mitglieder zeigten sich hinsichtlich der Namensgebung als eigensinnig und unnachgiebig. Sie wollten sich als selbstständiger Verein gründen und beriefen sich auf ihre Tradition von 1871 – ein Jahr, das den SED-Funktionären wegen der Gründung des Deutschen Reichs suspekt war. Um ihr Vorhaben durchzusetzen, waren drei Gründungsveranstaltungen nötig, weil Vertreter des Sportbundes der DDR die Namensgebung nicht anerkennen wollten. Damals hießen Vereine „Traktor“, „Lokomotive“ oder „Aufbau“, aber eben nicht „Schachgemeinschaft“. Zur ersten Gründungsveranstaltung kam der Verantwortliche mit der Urkunde. Doch weil nicht „Schachgemeinschaft“ draufstand, schickten ihn die Löberitzer gleich zweimal unverrichteter Dinge wieder nach Hause. Am Ende einigten sich beide Parteien auf SG, was sowohl Sport- als aus Schachgemeinschaft bedeuten kann. Eine solche Rebellion war natürlich nur möglich, weil Schach eine Randsportart war.

Konrad Reiß
Konrad Reiß (Foto: Harry Schaack)


Konrad Reiß fühlte sich von Beginn an der Tradition verpflichtet. Die SG Löberitz liegt auf Platz 18 der ältesten noch existierenden Schachvereine Deutschlands. Das Gründungsmitglied des Deutschen Schachbundes ist damit der älteste Klub in Sachsen-Anhalt. Reiß betont, dass all seine Aktivitäten auf diesem Fundament aufbauen – auf einer Tradition, die ihren Anfang nimmt, als 1866 Johann Melchior Kirsch aus Halle nach Löberitz kommt. Er ist schachbegeistert und findet rasch in Friedrich Franz Ohme einen Verbündeten. Ohme ist ein Mann, der seine Ideen umzusetzen weiß. Ein „Macher“, der irgendwie an Reiß erinnert. Ohme gründet die Feuerwehr, den Gesangs-, den Turnverein – und 1871 mit Kirsch und einem gewissen Krause in seinem Gasthof „Zur Weintraube“ den ersten Löberitzer Schachklub. Sicher war Ohme ein Idealist, wohl aber auch ein Geschäftsmann. Denn all diese Vereine tagten wöchentlich in seinem Gasthof und steigerten den Umsatz.

Ohmes Blick richtet sich jedoch über die Ortsgrenzen hinaus. Seine größte Tat war 1883 die Gründung des Saale-Schachbundes, deren erster Präsident er wurde. Einige Jahre später verkauft Ohme sein Lokal und erwirbt eine Ziegelei, muss 1898 aber Konkurs anmelden. Danach verliert sich seine Spur. Wo Friedrich Franz Ohme, der so sehr das kulturelle Leben in Löberitz gestaltet hat, begraben liegt, ist unbekannt.
Der große Aufschwung von Löberitz hing vor allem mit dem II. Kongress des Saale-Schachbundes zusammen, der 1883 in der Gemeinde abgehalten wird. Als aus diesem Anlass der junge Siegbert Tarrasch kommt und das Ehrenpreisturnier gewinnt wird Löberitz endgültig Teil der Schachgeschichte.

(Der Text ist folgend auszugsweise wiedergegeben.
Den ganzen Artikel lesen Sie in KARL 3/07.)