DIE SUCHE NACH DEM FEHLERFREIEN TEXT
Ein Interview mit Matthias Vettel, der beim Rattmann-Verlag für das Buchlayout zuständig ist. Seine Bearbeitung der beiden Nimzowitsch-Bände Mein System und Die Praxis meines Systems hat breite Anerkennung gefunden – nicht nur was das Design sondern auch die inhaltliche Sorgfalt angeht. Mit KARL sprach er über Typographie, Quellenlage, Textinterpretation und den Schachspieler Aaron Nimzowitsch.
KARL: Du hast nun schon einige Bücher für den Rattmann-Verlag gemacht. Wie kam es zur Zusammenarbeit?
MATTHIAS VETTEL: Das war reiner Zufall. Ich bin mit Reinhold Dreier befreundet und hatte ihn schon früher öfter gefragt, ob er nicht Interesse habe, alte Schachbücher wieder aufzulegen. Doch er war skeptisch, weil die Auflagen einfach zu gering waren. Er befürchtete, am Ende draufzulegen. Mit dem Aufkommen der Schachdatenbanken ist der Buchmarkt eingebrochen.
Irgendwann erfuhr ich, dass Reinhold zusammen mit den Lademachers und Erich Siebenhaar den Rattmann-Verlag übernommen hat, der die Rechte an diversen Klassikern besitzt. Und es war klar, dass nun vergriffene Bücher wie Bobby Fischers Meine 60 Denkwürdigen Partien wieder neu aufgelegt werden. Ich hatte eine solche Lust darauf, dass ich Reinhold anbot, das erste Buch kostenlos zu machen.
Hattest Du früher schon etwas mit dem Herstellen von Büchern zu tun gehabt?
Ich habe bei meinem Vater gearbeitet, der unter anderem für einen großen Verlag tätig war. Zuvor hatte ich eine Ausbildung als Technik-Informatiker gemacht. Früher habe ich Computer gehasst – und ich mag sie immer noch nicht besonders. Aber ich fing früh damit an und habe mir die Kenntnisse für den digitalen Satz von Büchern autodidaktisch beigebracht. Anfang der Neunziger gab es noch nicht so viele Leute, die sich mit Computern gut auskannten.
Was reizt Dich am Layouten?
Ursprünglich hat mich das gar nicht so interessiert. Ich wollte eigentlich mehr in Richtung Programmierung gehen, bin dann aber bei der Formatierung gelandet. Irgendwann las ich ein Typographie-Buch von Tschichold, das mich faszinierte. Ich begann die Buchstabenformen zu studieren, die eine eigenartige Anziehung auf mich ausübten. Es ist wohl so, wie Donald E. Knuth (der das Textsatzsystem TeX entwickelt hat, mit dem ich arbeite,) einmal sagte: Wenn Du einmal mit Typographie angefangen hast, kommst Du nicht mehr davon los. Du schaust immer genauer hin und lernst, kleinste Feinheiten der Schriften zu unterscheiden. Bis heute hält diese Faszination an.
Glaubst Du, die Leser wissen Deine Arbeit zu würdigen?
Bei der Vorbereitung zu meinem ersten Buch für Rattmann, Fischers 60 Denkwürdige Partien, habe ich einmal ein paar Entwürfe mit verschiedenen Schriften gemacht und Freunden gezeigt. Einer von ihnen meinte, er sehe gar keinen Unterschied. Das hat mich schockiert. Doch ich denke, dass die Leser intuitiv wahrnehmen, ob der Gesamteindruck eines Buches gut ist. Auch wenn sie vielleicht gar nicht genau benennen können, woran es liegt.
Gibt es Besonderheiten beim Erstellen eines Schachbuches?
Schachbücher stellen hohe Anforderungen. Es sind keine Bücher, die man sich vor die Augen hält, sondern sie liegen normalerweise auf dem Tisch. Daher müssen die Buchstaben etwas größer sein. Das Problem besteht darin, einen Schriftfont zu finden, der für Ein- als auch für Zweispaltensatz geeignet ist, ohne dass das Textbild uneinheitlich wird. Außerdem muss die Type mit der Notationsschrift, der Figurine, harmonieren.
Welche Fähigkeiten muss man als Layouter mitbringen?
Irgendein Typograph hat einmal gesagt, die Typographie läge an der Grenze zwischen Kunst und Mathematik. Man braucht große Präzision. Nicht so sehr die Kreativität als vielmehr ein gutes Auge ist gefragt. Man muss ein ästhetisches Gefühl dafür entwickeln, wie das Erscheinungsbild eines Buches sein sollte.
Stellte die Bearbeitung der Nimzowitsch-Bücher eine besondere Herausforderung dar?
Man muss Nimzowitsch gut verstehen. Wenn ich den Inhalt nicht vollständig begreife, kann ich mir bestimmte Eingriffe nicht leisten. In Mein System habe ich z.B. bestimmte Merksätze markiert und optisch hervorgehoben. Da musste ich mir ganz sicher sein, dass es sich um Stellen handelt, die vom Autor als Kernaussagen intendiert waren. Ansonsten hätte ich damit das Buch zerstört.
Wie lange hast Du an den Nimzowitsch-Büchern gearbeitet?
Zu lange. Für Mein System habe ich fast ein Jahr gebraucht. Ich bin einfach zu langsam. Aber leider passiert es häufig, dass ich mit der Formatierung irgendwann nicht mehr zufrieden bin. Beim System musste ich zweimal wieder von vorne anfangen, nachdem ich schon etwa 100 Seiten formatiert hatte. Bei den Versionen zuvor hat mir nach einer gewissen Zeit der Seiteneindruck nicht mehr gefallen. Einmal waren die Überschriften einfach zu mächtig, sodass sie das ganze Layout erschlagen haben. Und es passiert mir oft, dass mir etwas an einem Tag gefällt und eine Woche später nicht mehr.
Was waren die größten Hürden bei der Wiederauflage der beiden Nimzowitsch-Bücher?
Die Praxis meines Systems war leicht zu bearbeiten, Mein System dagegen sehr schwer. Erstens sind in der Erstausgabe sehr viele Fehler enthalten, die getilgt werden mussten. Und zweitens ist der Satz extrem kompliziert. Mein Textprogramm hat Probleme mit ungleichbreiten Spalten, weswegen vieles „Handarbeit“ ist.
Gab es noch andere Schwierigkeiten?
Robert Hübner sagte mir, dass ich nur etwas ändern dürfe, wenn ich mir absolut sicher sei. Es gab jedoch einige Fälle, bei denen ich unsicher war. Einige Male finden sich in der Erstausgabe Sätze, die keinen Sinn ergeben. Mitunter genügt ein fehlendes Komma, und die Satzaussage ist gänzlich entstellt. Manche Sätze habe ich geändert und durch Fußnoten darauf hingewiesen. Einmal fand ich ein Jahr später die Lösung zu einer unklaren Textpassage, weil Nimzowitsch in der Praxis eben jene Stelle aus dem System zitierte.
An einer Stelle im System steht in der Überschrift „Granitblock“ und im folgenden Kapitel mehrmals „Gesamtblock“. Ich hielt es für ein Versehen und änderte die Überschrift in „Gesamtblock“. Doch später sah ich in der Praxis, dass Nimzowitsch von Granitblock spricht, weil der Gegner auf Granit beißt. Da wurde mir klar, dass ich es falsch gemacht hatte.
Die Sprache Nimzowitschs ist ja auch etwas ungewohnt …
Im Wesentlichen verwendet Nimzowitsch Begriffe aus der militärischen Strategie. Es ist eine gewöhnungsbedürftige Sprache. Man hat mir übrigens versichert, dass er auch kein „normales“ Russisch geschrieben hat. Aber ich finde ihn stilistisch großartig. Ich verstehe die Leute nicht, die seine Sprache für „unsäglich“ halten.
Über Nimzowitschs militärische Terminologie habe ich länger nachgedacht. Schach ist im Grunde ein militärisches Spiel und daher ist es naheliegend, dass er dauernd solche Begriffe verwendet. Die Probleme der früheren Kriegsstrategie sind vermutlich denen des Schachs sehr ähnlich. Nimzowitschs Metaphern führen jedenfalls nicht in die Irre. So benutzt er zum Beispiel den Begriff der „Umgehung“. Im militärischen Sinne ist damit gemeint, die Stellung des Feindes zu umgehen und ihm in den Rücken zu fallen. Dies ist es im Wesentlichen auch, was im System darunter verstanden wird.
Gab es noch andere Probleme mit der Vorlage?
Bei einem Diagramm fehlte einer der Könige. Um die Stellung zu rekonstruieren, überlegte ich mir, was Nimzowitsch eigentlich zeigen wollte. Zudem habe ich mir sein Buch Die Blockade im Faksimile und Teilfaksimile besorgt, in dem das Diagramm ebenfalls enthalten ist. In der einen Fassung stand der König dort, wo ich ihn auch vermutete. Wahrscheinlich dachte der damalige Herausgeber so wie ich zunächst auch. Aber in der Vollfaksimile-Ausgabe fehlte der König ebenfalls. Da war ich mir sicher, dass Nimzowitsch den König absichtlich weggelassen hat. Es ging ihm um die Veranschaulichung eines Angriffs. Da hätte der König des Angreifenden nur gestört.
Kann man davon ausgehen, dass Nimzowitsch „Mein System“ gar nicht als Ganzes vorliegen hatte?
Das ist ein interessanter Aspekt. Nimzowitsch reichte das Werk in mehreren Lieferungen an den Verlag ein. Der gesamte Text entstand also nach und nach. An einer Stelle heißt es zu einer Partie, er werde im Schlussteil noch einmal darauf zurückkommen. Aber da kommt dann nichts mehr. Vermutlich musste er sich an vorgegebene Seitenzahlen des Verlages halten. Vielleicht konnte er aber auch den gesamten Text nicht mehr überblicken und hat es einfach vergessen. Man sieht dies übrigens auch am Inhaltsverzeichnis. Die dort genannte Reihenfolge der Elemente stimmt nicht mit dem Inhalt überein.
Du hast der „Praxis“ im Vergleich zu früheren Auflagen einige Texte hinzugefügt, andere weggelassen. Was waren die Gründe dafür?
Bei Wie ich Großmeister wurde fiel die Wahl nicht schwer. Dieser wichtige Text lag bislang nur im russischen Original und in Auszügen in englischer Sprache vor. Und der kurze Text Steinitz, Tarrasch, ich und … Alapin ist einfach herrlich. Nimzowitsch ist teilweise lustiger als seine besten Parodien. Dieser Artikel steht am Ende eines Disputes, der in der Wiener Schachzeitung ausgetragen wurde. Alapin wollte Nimzowitschs Ideen mit einigen konkreten Varianten widerlegen. Daraufhin replizierte Nimzowitsch, Alapin sei ein „Variantenkünstler“. Er meinte: „Grundsätze lassen sich eben nicht durch Varianten, sondern nur durch grundsätzliches Eingehen widerlegen.“
Der frühe Nimzowitsch ist übrigens auch insofern interessant, als er Texte noch stärker optisch formatiert hat. Z.B. ist der Artikel Entspricht Dr. Tarraschs „Die Moderne Schachpartie“ wirklich moderner Auffassung?, der Teil von Mein System ist, zunächst in der Wiener Schachzeitung durch Schlagworte am Rand viel aggressiver betont worden.
Kannst Du etwas über die Hannak-Biographie sagen, die fester Bestandteil der meisten Neuauflagen von „Mein System“ war?
Ich habe mich über diese Biographie sehr geärgert. Hannak haut in dieselbe Kerbe wie Tarrasch. Nimzowitsch ging es ja gerade darum, von den oberflächlichen Bewertungen der von ihm so genannten „Pseudoklassiker“, vom Aussehen und vom Dekor wegzukommen und den Gehalt einer Stellung zu erfassen auf der Grundlage der Bauernstruktur. Hannak zeigt durch seine Äußerungen, dass ihm Nimzowitschs Schach und übrigens auch dasjenige von Steinitz, den Nimzowitsch ja über alles geschätzt hat, völlig fremd ist. Und Hannak hätte sich mit einem solchen Vorwort den Zorn Nimzowitschs zugezogen. Ein solcher Text, der mit so vielen Vorurteilen und Plattitüden versehen ist, dazu noch in einer schwer erträglichen Schwülstigkeit daherkommt, ist einfach fehl am Platz. Der Respekt vor Nimzowitsch, der ohnehin unter unberechtigter Kritik sein Leben lang gelitten hat, gebietet es, diesen Text nicht mehr in einem seiner Bücher abzudrucken.
Wie bewertest Du selbst eure jetzige Neuherausgabe der Nimzowitsch-Bücher?
Mit den nun vorgelegten Bänden sind erstmals weitgehend fehlerfreie Rekonstruktionen erschienen. Eigentlich erstaunlich, dass es ungefähr 80 Jahre gedauert hat, insbesondere wenn man bedenkt, wie oft diese beiden Bücher wiederaufgelegt wurden.
Welche grundlegenden Änderungen hast Du am Text vorgenommen?
Der größte Einschnitt waren die Hervorhebungen der Merksätze. Nimzowitsch geht sehr didaktisch vor, deshalb bietet es sich an, grundlegende Äußerungen optisch hervorzuheben. Der Textsetzer hat eine ähnliche Aufgabe wie der Interpret einer Komposition. Er muss den Text irgendwie deuten. Ich wollte vermeiden, dass wichtige Textstellen überlesen werden. Zudem haben wir die Diagrammzahl deutlich erhöht.
Warum hast Du die Partien in der „Praxis“ mit Varianten von Fritz ergänzt, die Partien im „System“ aber unberührt gelassen?
Das hat zwei Gründe. Im System gibt es deutlich weniger Analysen als in der Praxis. Natürlich sind auch dort Fehler enthalten. Aber das System ist weitgehend als ein theoretischer Text zu verstehen. In der Praxis geht es aber ans Eingemachte, dort ist so wenig Theorie wie nötig drin. Ich habe jede Partie mit dem Rechner überprüft und mir auch meine eigenen Gedanken gemacht. Mir schien es sinnvoll, die vielen Fehler in der Praxis wenigstes teilweise zu korrigieren. Außerdem wollte ich dem Leser im Vergleich zu früheren Auflagen noch etwas mehr bieten.
Manche Leute mögen das zwar nicht, da sie den Eindruck haben, hier würde an einem Denkmal gekratzt. Aber Nimzowitsch sagt ja selbst in seiner schon erwähnten Replik auf Alapin, dass die Varianten gar keine so große Rolle spielen (lacht).
Wie gut hat Nimzowitsch analysiert?
Ich glaube, bei Nimzowitsch sind mehr Fehler enthalten, als bei vergleichbaren Autoren seiner Zeit. Ich schätze ihn sehr, aber ich denke, dass z.B. Aljechin bessere Analysearbeit geleistet hat. Teilweise hat er einfach etwas geschlampt. Überspitzt formuliert kann man sagen: Es besteht ein Anfangsverdacht, dass bei Nimzowitsch jede komplexe Analyse falsch ist. Aber das macht nichts. Denn – wie gesagt – bei ihm kommt es nicht so sehr auf die Präzision der Varianten an. Er suchte nach theoretischen Grundsätzen. Er wollte darlegen, was er über Schach denkt. Und das ist ihm überaus gut gelungen.
Ich glaube übrigens, Larsen sagte einmal, dass Nimzowitsch das Gefühl hatte, alles in sein System einpassen bzw. alles auf sein System hin analysieren zu müssen. Dies trägt viel zur Geschlossenheit und Stringenz seiner Werke bei.
Der Rattmann-Verlag bietet auf seiner Webseite neben Rezensionen und umfangreichem Informationsmaterial auch eine Errata-Liste zu den Nimzowitsch-Büchern an.
Ich mache das nicht bei jedem Buch, aber bei den Nimzowitsch-Büchern und auch noch bei dem einen oder anderen war es mir wirklich wichtig. Mein Wunsch ist es, langfristig fehlerfreie Ausgaben vorzulegen. Einige Fehler konnten durch die Errata-Liste, an der aufmerksame Leser mitgearbeitet haben, in der jetzt erschienenen Zweiten Auflage von Mein System bereits beseitigt werden.
In dem von Dir an „Die Praxis meines Systems“ angehängten Text „Wahrheit und Dichtung“ setzt Du Dich mit John Watsons „Geheimnisse der modernen Schachstrategie. Fortschritte seit Nimzowitsch.“ auseinander. Obwohl das Buch viel Anerkennung erhalten hat, scheinst Du mit seinen Einschätzungen nicht übereinzustimmen.
Ich habe Watson immer sehr geschätzt. Sein Buch hat mir gefallen. Aber wenn man Nimzowitsch gut kennt, merkt man, dass er manche Dinge nicht richtig verstanden hat. Am meisten geärgert hat mich jedoch seine Behauptung, die alten Spieler seien dogmatisch gewesen und hätten nach Regeln gespielt. Das halte ich für grundfalsch. Kein guter Schachspieler hat je nach Regeln gespielt. Das geht gar nicht. Und dann haben die alten Spieler in wenigen Jahrzehnten die gesamte moderne Zentrumstheorie entwickelt und dabei mussten so viele Urteile revidiert werden. Wie kann man da von Dogmatismus sprechen? Nach Watson tendiert das moderne Schach in Richtung konkreter Varianten, und er empfiehlt insbesondere das Auswendiglernen – im Gegensatz zu Nimzowitsch, dem es als Schachlehrer darum ging, das Positionsgefühl zu entwickeln und das Gedächtnis so wenig wie nötig mit Varianten zu belasten. Watsons Verständnis vom Schach sehe ich als Gegensatz zu Nimzowitsch, nicht als Fortschritt. Dazu ist es zu verschieden. Was übrigens die Berechnung von Varianten anbelangt: irgendwann kommt man an Grenzen und muss Stellungen abschätzen, benötigt also in jedem Fall allgemeine Kriterien.
Wie schätzt Du Nimzowitschs Bücher schachhistorisch ein?
Ich glaube, Nimzowitschs Werk war bahnbrechend. Und die Bedeutung von System und Praxis dauert bis heute an. Ich denke, dass sich das Positionsschach, was die Grundlagen betrifft, bis heute nicht weiterentwickelt hat. Es gibt Fortschritte im Detail, selbstverständlich. Aber Nimzowitschs Theorie ist so allgemein und universal formuliert, dass sie in der Lage ist, neue Entwicklungen einfach aufzunehmen.
Hat sich Deine Einstellung zu Nimzowitsch während der Arbeit an seinen Büchern verändert?
Mein Respekt vor der Leistung Nimzowitschs ist gewachsen. Mich beeindruckt, dass er grundsätzliche Stellungsmerkmale und strategische Pläne entwickelt hat, die bis heute tragen. Das ist viel schwerer, als korrekte Varianten zu produzieren. Für mich ist es wirklich wie ein Wunder, dass heute bestimmte Stellungstypen noch genauso gespielt werden, wie Nimzowitsch das beim allerersten Mal demonstriert hat. Deswegen kann ich auch diejenigen nicht verstehen, die behaupten, Nimzowitsch habe nicht so viel Neues gebracht. Alleine mit seinen eröffnungstheoretischen Beiträgen – der Entwicklung der Damen- und Nimzoindischen Verteidigung oder der Vorstoßvariante im Franzosen – war er seiner Zeit weit voraus. Und was „Prophylaxe“ und „Lavierspiel“ anbelangt, das sind Dinge, die auf diesem Niveau erst wieder bei Dworetski abgehandelt werden.
Nimzowitsch war einige Zeit als WM-Kandidat im Gespräch. Glaubst Du, er hätte das Zeug zum Weltmeister gehabt?
Er war in den Zwanziger Jahren die Nummer drei der Welt. In einer kurzen Phase hatte er sogar gegen Aljechin eine ausgeglichene Bilanz vorzuweisen, gegen den er insgesamt allerdings schlecht abgeschnitten hat. Er war sicher ein sehr starker Endspieler und ein ganz großer Schwarzspieler. Aber zum Weltmeister hätte es nicht gereicht.
Was war sein größtes Manko?
Mit Weiß hat er einfach zu schwach gespielt. Das hängt sicher mit seinem Gefühl für das Zentrum zusammen. Er spielte nicht besonders gerne mit einem Vollzentrum, mit dem kleinen Zentrum hat er sich wohler gefühlt. Und er mochte auch keinen lockeren Aufbau. Und so spielte er oft Varianten mit vertauschten Farben, die aber für Weiß im Grunde nicht so erfolgversprechend sind. Ich habe seine Partien statistisch ausgewertet. Wenn ich mich nicht irre, hat er in den letzten 20 Jahren seines Lebens mit Schwarz genau eine Partie mehr gewonnen als mit Weiß.
Seinen theoretischen Niederschlag hat dies in den Begriffen Konsolidierung, Prophylaxe und Überdeckung gefunden. Er sagt an einer Stelle, dass das Positionsspiel es nicht mit Angriff und Verteidigung, sondern mit Konsolidierung zu tun habe, also mit Sichern und Befestigen.
Spielte Nimzowitsch zu ängstlich?
Überhaupt nicht. Er spielte fast alle Partien auf Gewinn, teils mit sehr hohem Risiko, wobei er sich da auf Emanuel Lasker und den von ihm geprägten Begriff des „Vorgabestils“ glaubte berufen zu können. Man muss sich nur einmal ansehen, wie er eine so langweilige Eröffnung wie Französisch Abtauschsystem auf Gewinn spielte. Aber um seine eigentliche Stärke ausspielen zu können, brauchte er die Mithilfe des Gegners. Am besten war er, wenn er angegriffen wurde. Es gibt ein Kapitel in der Praxis über „heroische Verteidigung“, aber zu heroischem Angriff habe ich nichts gefunden.
Erinnert das nicht auch an seine sonstigen Charakterzüge außerhalb des Schachbrettes?
Ja. Ich wage einmal die These, dass Nimzowitsch von seiner Struktur her ein Gegenüber brauchte, gegen das er vorgehen konnte. Tarrasch war lange Zeit eine Triebfeder in diesem Sinne. Nimzowitsch ist der Konterspieler par excellence gewesen. Und ich habe das Gefühl, dass sich diese Eigenschaft auf sein ganzes Leben übertragen lässt. Wie schrieb er doch einmal sinngemäß: Lieber Leser, wenn Du wirklich gut werden willst, suche Dir einen Feind und versuche, ihn vom Sockel zu stoßen!
Das Interview führte Harry Schaack