JUDIT POLGAR:
ANMERKUNGEN ZU EINEM PHÄNOMEN

Von Johannes Fischer

Judit Polgar, Mainz 2003
Judit Polgar (Foto: Harry Schaack)

Seit ihrer Kindheit erregt Judit Polgar die Gemüter. Sie ist die jüngste und erfolgreichste der drei Polgar-Schwestern und damit Teil eines pädagogischen Experiments von Vater Laszlo Polgar, der glaubt, Genie sei nicht angeboren, sondern anerzogen. Den Beweis für diese These versuchte er mit radikalen Methoden anzutreten: Da er der Ansicht war, die Schule würde Kinder nicht ausreichend fördern, erzog er seine Töchter zusammen mit seiner Frau Klara zu Hause. Später schilderte Judit in einem Interview einen für sie und ihre Schwestern typischen Tag: „Wir stehen um sechs auf. Um sieben gehen wir in einen Tischtennis-Klub, wo wir zwei bis drei Stunden Tischtennis spielen. Dann gehen wir nach Hause, spielen Schach, empfangen Gäste, Journalisten. Und danach hören wir Musik, lesen ein bisschen. Normalerweise spielen wir sechs bis acht Stunden Schach am Tag“ (Dirk Jan ten Geuzendam, „Interview with Judit Polgar“, New in Chess , 8/1989, S. 34).

Die Erfolge von Laszlos Methoden sind bekannt, aber rufen gemischte Gefühle hervor: kann man, darf man so seine Kinder erziehen? Erinnert dieses Experiment nicht an Kinder, die mit aller Gewalt zu Turnstars gemacht wurden und später mit früh verbrauchten Körpern bitter für die frühen Erfolge zahlen mussten? Aber zeigt dieses Experiment nicht auch, wie schlecht es um die Erziehung von Kindern in unserer Gesellschaft bestellt ist, wie viel Potenzial bei fast jedem verloren geht, eben weil er oder sie nicht richtig gefördert wird?

In der Schachwelt brachten Judit Polgars Erfolge den Glauben ins Wanken, Frauen könnten von Natur aus kein Schach spielen, denn die Ungarin schien genug Talent und Energie zu besitzen, um den Weltmeisterthorn der Männer einnehmen zu können. Die Reaktionen folgten prompt. Herabsetzung, wie z.B. durch den ehemaligen Kasparow-Trainer Alexander Nikitin, der nach der 4,5:5,5 Niederlage von Boris Spasski in einem 1993 in Budapest ausgetragenen Wettkampf gegen Judit Polgar, schrieb: „Ich verstehe noch immer nicht ganz, warum Boris sich auf diese Sache eingelassen hat … Wenn er verliert, würden die Leute sagen: gegen ein kleines Mädchen verlieren, wie tief kann man sinken?“ ( New in Chess , 2/93, S. 46) oder das Beschwören der Natur wie durch Garry Kasparow 1990: „Es ist unvermeidlich, dass die Natur gegen sie arbeitet, und das sehr bald. Sie besitzt phantastisches Schachtalent, aber sie ist trotz allem eine Frau. Das liegt alles an den Unvollkommenheiten der weiblichen Psyche. Keine Frau kann einen längeren Kampf durchhalten. Sie kämpft gegen die Gewohnheit von Jahrhunderten und Jahrhunderten, seit Anbeginn der Welt. (Zitiert in Alex Dunne, 2010 Chess Oddities , S.78)

Viele junge Schachspielerinnen sehen in Judit Polgar ein Rollenmodell, anderen jedoch ist sie unbequem. Aber nicht, weil sie regelmäßig gegen Polgar verlieren. Im Gegenteil: Judit Polgar weigert sich in schwach besetzten Frauenturnieren anzutreten und spielt nur bei den Männern mit. Einzige Ausnahme waren die Schacholympiaden 1988 in Saloniki und 1990 in Novi Sad, wo sie mit ihren Schwestern Zsuzsa und Sofie sowie Idliko Madl beide Male Gold für Ungarn gewann. Judit Polgar hat nie versucht, Frauenweltmeisterin zu werden, obwohl sie als mit Abstand beste Schachspielerin der Welt damit leicht Titel und Tausende von Dollar hätte gewinnen können.

Judits Weigerung in Frauenturnieren zu spielen, bricht ein Tabu. Schließlich sollte es zu denken geben, wenn die beste Frau der Welt Frauenturniere vermeidet. Vielleicht verführen die leichteren Frauenturniere, in denen schneller und mit viel weniger Einsatz Erfolge zu erzielen sind, talentierte Frauen, ihr Talent nicht zu entfalten? Diese Überlegung wiederum gefährdet die Nische Frauenschach. Sicher, eine Frau mag sich in der Männerwelt des Schachs nicht immer wohl fühlen, aber die Frauen, die dabei bleiben und halbwegs gut spielen, kommen in den Genuss einer Reihe von Privilegien. Denn anders als im Berufsleben erhalten sie für die gleiche Leistung nicht weniger, sondern mehr Geld. In der Frauenbundesliga, bei Frauenturnieren und in zahlreichen Open, bei denen Sonderpreise für Frauen ausgelobt werden. Mehr Aufmerksamkeit bekommen sie sowieso. Elisabeth Pähtz, bei den Frauen in Deutschland die Nummer Zwei, zieht mehr mediales Interesse auf sich, als die gesamte deutsche Herrenmannschaft aus Alexander Graf, Christopher Lutz, Jan Gustafsson, Leonid Kritz und Klaus Bischoff.

Aber die Trennung in Männer- und Frauenschach ermutigt talentierte Mädchen nicht nur, sich mit weniger zu begnügen, als sie erreichen könnten, sie ist auch in anderer Hinsicht problematisch. Gerne schmückt sich das Schach damit, Eigenschaften wie Selbstdisziplin, analytisches Denken, überlegtes Handeln usw. zu vermitteln, die im Leben, insbesondere im Berufsleben, wichtig sind. Wenn dies stimmt, was sagt das dann über die Chancen der Frauen im Berufsleben? Ist der Umstand, dass so wenige Frauen gut Schach spielen dann nicht ein Beleg dafür, dass Frauen im Arbeitsleben noch immer benachteiligt werden? Mit anderen Worten: Schneiden sie in Sachen berufliche Qualifikation naturgegeben schlechter ab als Männer? Die Zahlen sprechen eine andere Sprache. Erst kürzlich veröffentlichte der Spiegel eine Untersuchung, die zeigt, dass die Schulnoten und Universitätsabschlüsse von Frauen im Vergleich zu denen der Männer immer besser werden und in mehr und mehr Bereichen des Lebens besetzen Frauen zunehmend wichtige Positionen – trotz immer noch herrschender Benachteiligung.

Tatsächlich geht es bei der Diskussion um das Phänomen Judit Polgar um mehr als nur Schach: Das Selbstverständnis als Mann und Frau, gesellschaftliche Rollen und scheinbare Gewissheiten, mit denen man aufgewachsen ist, stehen auf dem Spiel. Und das Schöne am Phänomen Judit Polgar ist, dass es alte Denkmuster aufbricht. So wurde ihr seit Beginn ihrer Laufbahn prophezeit, ihre Schachkarriere würde spätestens dann einen Knick bekommen, wenn sie eine Familie gründet. Jetzt, wo sie im August ihr erstes Kind bekommen hat, wird man sehen, ob das zutrifft. Vielleicht straft sie alle Pessimisten Lügen und spielt nach Babypause besser als je zuvor. Es wäre ihr und der Schachwelt zu gönnen.