Harry Schaack

EDITORIAL

LIEBE LESER,

unser Schwerpunkttitel Frauenschach stellt eigentlich einen Widerspruch in sich dar. Zählt nicht gerade Schach zu den wenigen Sportarten, die einen Zugang unabhängig vom Geschlecht erlauben? Warum dann diese Trennung, die sich seit jeher auch strukturell in der Schachgeschichte verankert hat? Seit den Zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts werden Frauenweltmeisterschaften separat ausgetragen. Und seit jeher wird in den Ländern ein unabhängiger Spielbetrieb durchgeführt, der in eigenen Frauenligen und Meisterschaften seinen Ausdruck findet. Sollte jedoch nicht spätestens seit Judit Polgar der Beweis erbracht sein, dass auch Frauen zu Höchstleistungen im Schach fähig sind? Offenbar ist dem nicht so. Die Ungarin wird immer noch als eine Ausnahme gesehen und die männliche Auffassung zum Frauenschach hat sich in den letzten hundert Jahren nur unwesentlich verändert. Das aber Koedukation dennoch zur Förderung des Frauenschachs beitragen kann, ist eine der Thesen, die Michael Klyszcz in seiner Untersuchung über die Gründe für die Spielstärkeunterschiede zwischen Männern und Frauen aufstellt.

Als ich kürzlich in einer Unterhaltung unseren nächsten Schwerpunkt erwähnte, fragte mich mein Gesprächspartner, ob wir auch etwas über Beziehungsgeschichten bringen würden. Diese Frage habe ich zu unseren anderen Themen noch nicht gestellt bekommen, obgleich sie auch dort eine Berechtigung hätte. Jedenfalls zeigt dieses Beispiel, welche Assoziationen Frauenschach hervorruft. Mit Vorurteilen mussten sich Frauen in der gesamten Schachgeschichte auseinandersetzen. Nona Gaprindaschwili schrieb einmal: „Männer schämen sich, gegen eine Frau zu verlieren – und sei es die Weltmeisterin selbst […]. Beispielsweise spielen Männer, die sich im Turnier auf den letzten Plätzen befinden […] gegen mich mit ungewöhnlicher Hartnäckigkeit, als ob von dieser Partie der erste Platz abhinge.“ Und selbst Judit Polgar, die zu den zehn besten Spielern der Welt zählt, muss sich gelegentlich noch über solch mangelnden Respekt beklagen. In einem Interview berichtet sie 2002 über den deutschen Spitzenspieler Alexander Graf, der von der Weltspitze weit entfernt ist: „Er benahm sich nicht sonderlich fair. Als ich ein Remis anbot, lehnte er es ab. Als es ganz am Ende trotzdem auf die Punkteteilung hinauslief, bot er kein Unentschieden an, sondern reckte mir nur die Hand entgegen und sagte: ‚Okay, remis.‘ So, als ob ich immer zu akzeptieren hätte, wenn er das Remis verkündet.“ Mit der Bedeutung des Phänomens Judit Polgar setzt sich Johannes Fischer auseinander.

Auch in der Frühgeschichte des Frauenschachs gab es bekannte Persönlichkeiten, an denen sich die Öffentlichkeit rieb, die aber heute fast vergessen sind. Michael Negele hat über Sonja Graf geforscht, eine der besten Spielerinnen ihrer Zeit. Sein facettenreiches Porträt zeichnet den tragischen Lebenslauf der Deutschen nach.

In den Rubriken stellt Zoltan Almasi seine Lieblingspartie vor und berichtet über den Teamgeist der ungarischen Olympia-Mannschaft in Bled. Im Porträt spricht Rainer Polzin über Eröffnungsanalysen, die Bundesliga und wie sich Schach mit dem Beruf eines Anwalts verbinden lässt. Und Ernst Strouhal und Michael Ehn erinnern an den stets Kontroversen hervorrufenden deutschen Schriftsteller Arno Schmidt, in dem sie zwei seiner Partien mit Zitaten aus seinem Hauptwerk „Zettels Traum“ versehen.

Harry Schaack