IM WEB ENTDECKT

EIN FORUM ZUR SCHACHGESCHICHTE

Von Johannes Fischer

(Die Website existiert mittlerweile nicht mehr.)

Genauigkeit und Anspruch provozieren. Das erfuhr der Schweizer IM Richard Forster, als er es wagte, Kasparows Buch My Great Predecessors zu kritisieren. Anhand einer eingehenden Betrachtung der Analysen zur Partie Capablanca – Boguljubow, Moskau 1925, untersuchte er, aus welchen Quellen Kasparow und sein Co-Autor Plisetsky geschöpft hatten. Das Ergebnis fiel vernichtend aus: „Ein großer Teil der Analysen (mit Sicherheit mehr als 95%) wurde aus vorhandenen Quellen kopiert, meist ohne entsprechenden Verweis“.

Diese öffentliche Schelte am Werk des Ex-Weltmeisters rief zahlreiche Verteidiger Kasparows auf den Plan. Leider gingen ihre Angriffe selten auf die grundsätzliche Frage ein, die Forsters Kritik aufwirft: Wie groß ist Kasparows Anteil an dem Buch tatsächlich, wie viel des Materials darin stammt von ihm und wie viel hat Dimitrij Plisetski zusammengetragen und ohne weitere Prüfung und genaue Quellenangaben veröffentlicht?

Möglicherweise gibt der zweite Band Kasparows über seine „Vorkämpfer“ eine Antwort. Etwas Gutes hat dieser Streit jedoch bereits: Er macht auf Forsters Webseite www.chesshistory.com, wo die Kritik veröffentlicht wurde, aufmerksam. Sie bietet ein Forum für schachgeschichtlich Interessierte und ist durch ihre Ernsthaftigkeit und Genauigkeit ebenso informativ wie interessant.

Am Anfang steht eine kurze Erklärung Forsters, warum er seine Kolumne im Chesscafé (www.chesscafe.com) nicht mehr fortführt. Dann folgen unter dem Titel „The Critical Eye“ „eine Sammlung von Anmerkungen und Beobachtungen zu schachlichen Veröffentlichungen von historischem Interesse. Sie sind höchst kritisch, gelegentlich subjektiv, vollkommen unabhängig, bewusst selektiv und frei von Ausrufezeichen“. Übrigens ist dies eine Übersetzung. Das beeindruckend gute Englisch der Seite wendet sich an ein weltweites Publikum.

Einen leichteren Ton schlagen die „Chess Jottings“ an. Hier stellt Forster in Quizform Fragen zur Schachgeschichte, z.B.: „Welches biographische Detail haben Steinitz, Tarrasch und Aljechin gemeinsam, das von der Mehrzahl der Schachmeister (wie z.B. Capablanca, Lasker oder Marschall) nicht geteilt wird?“ Da diese Frage noch nicht richtig beantwortet wurde, folgt ein kleiner Hinweis: „Es hat etwas mit ihren Familien zu tun“.

Den größten Teil der Seite macht das „Research Center“ aus. Es soll „helfen, schachgeschichtliche Forschungen zu koordinieren“. Hier wird’s wieder ernst. Im „Clearing House“, einer Unterabteilung des Research Center, können „ernsthafte Schachforscher historische Fragen stellen und andere über ihre Projekte informieren“. Die meisten Forscher halten sich an diese Vorgabe und machen bei ihren Bitten um Unterstützung detaillierte Angaben zum eigenen Forschungsstand. Anfragen wie die von Manuel Fernandez Diaz, der unter dem Hinweis, dass er an einem Buch über Tarrasch arbeitet, ohne erkennbare Gegenleistung um seltene Daten, Fotos, Partien und Anekdoten bittet, sind selten.

Einen Einblick in die Arbeitsweise und den Enthusiasmus mancher Schachhistoriker bietet die Sektion „Puzzles & Mysteries“, wo „jede ernsthafte Frage, die sich auf bestimmte Partien, Fakten, Stellungen und Leute bezieht“ gestellt werden kann. Aufschlussreich sind z.B. die Einträge über das so genannte Jerome-Gambit, einer mehr als dubiosen Variante, in der Weiß nach 1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lc4 Lc5 in echter
Kaffeehausmanier mit 4.Lxf7+ einfach seinen Läufer opfert. Obwohl dieser Zug ohne theoretische Bedeutung ist, widmen sich die Schachhistoriker mit akribischem Eifer der Frage, wann er zuerst gespielt wurde und wem dieses Gambit seinen Namen verdankt. Wer sich an solchen Diskussionen beteiligen möchte und Hilfe bei der Forschung braucht, der findet in der Rubrik „Chess Data & Literature“ Verweise auf unentbehrliche Hilfsmittel für den Schachhistoriker.

Wer aber keine Neigung hat, solchen Rätseln nachzugehen, der sollte noch einen Blick ins „World Wide Chess Archive“ werfen, bevor er die Seite verlässt. Diese Linksammlung listet zahlreiche im Internet verfügbare Aufsätze über Schachspieler aller Zeiten und Spielstärke auf – und möchte man z.B. mehr über Nimzowitsch, Lasker, Steinitz, Henry Buckle oder Captain Evans, den Paten des Evans-Gambits, wissen, verraten die hier versammelten Artikel oft Details, die die Standardgeschichten des Schachspiels nicht erwähnen.

Auch wenn man nicht alles immer so genau wissen will: Einen Besuch lohnt www.chesshistory.com auf jeden Fall.