AMATEURE UND ALTERNATIVE
Ein Schachverein und seine Zeit
Von Johannes Fischer
Wie der Trick funktioniert, weiß ich bis heute nicht. Demonstrativ langsam zeigte der Zauberer seinem Publikum die beiden Münzen in der ausgesteckten rechten Hand; dann machte er eine Faust, die er auf den Billardtisch legte. Die linke Hand verbarg sich unter dem Tisch. Plötzlich schlug er kräftig mit der Faust auf Tisch, um anschließend leicht belustigt lächelnd seinem staunenden Publikum vorzuführen, wie die Münzen von der rechten in die linke Hand gelangt waren – als hätte er sie durch den Tisch geworfen.
Das war nur eines der Kunststücke, die Hobbyzauberer Siggi Weiß bei einer Feier der ersten Mannschaft des Hamburger Schachklubs Johanneum Eppendorf (kurz SKJE) vorführte. Diese Feier diente zugleich als Vorbereitungstreffen auf die Bundesligasaison 81/82, für die sich die Mannschaft durch ihren überraschenden Vorjahreserfolg in der 2. Bundesliga Nord qualifiziert hatte. Und ein Zauberer, der mit Münzen gut umgehen konnte, war vielleicht genau das, was wir brauchten. Denn obwohl die Liga damals weit schwächer war als heute, zeigten sich bereits Ansätze der im Laufe der Jahre immer stärker werdenden Professionalisierung. Manche Mannschaften hatten ausnahmslos bezahlte Spieler in ihren Reihen und Namen wie Hübner, Spasski, Miles, Sosonko, Chandler standen für internationales Spitzenschach auf hohem Niveau. Wenn wir dieses Abenteuer heil überstehen und das erklärte Ziel des Klassenerhalts schaffen wollten, mussten wir uns als reine Amateurtruppe etwas einfallen lassen.
Die Mannschaft zahlt sich selbst
Das erste und größte Problem war das Geld. Obwohl wir keinen bezahlten Profi in unseren Reihen hatten, waren immer noch Unterkunfts-, Fahrt- und Verpflegungskosten zu bezahlen. Da der Verein weder genug Geld hatte, noch willens war, das „elitäre Bundesliga-Vergnügen“ der ersten Mannschaft finanziell zu unterstützen, musste eine andere Lösung her. Deshalb wurde beschlossen, dass jedes Mannschaftsmitglied einen monatlichen Betrag von 50,- DM in eine gemeinsame Kasse einzahlen sollte, um so die Kosten für die Saison zu decken. Im Nachhinein erwiesen sich die Dinge als weniger dramatisch. Als Hamburger Mannschaft profitierten wir vom Fahrtkostenausgleich, der sich an den Preisen der Deutschen Bundesbahn orientierte. Durch Verzicht auf einen gewissen Komfort und der Bereitschaft, notfalls mit fünf Personen in einem VW-Käfer Platz zu nehmen, gestalteten wir die Saison sehr ökonomisch. Am Ende der Saison erhielt jeder sein Geld zurück und es blieb vom Fahrtkostenausgleich sogar noch etwas übrig.
Schach spielen für eine bessere Welt
Diese Lösung war charakteristisch für den SKJE, dessen Basis, wie der Name Johanneum Eppendorf andeutet, die Schulschachgruppe der Hamburger Traditionsschule Johanneum bildete. Das Johanneum war bzw. ist ein angesehenes, altehrwürdiges humanistisches Gymnasium, in dem man ab der 5. Klasse Latein und ab der 7. Klasse Altgriechisch lernt. Eine dieser Sprachen musste später als Leistungskurs belegt werden; Mädchen durften hier erst ab Mitte der 70er Jahre zur Schule gehen. Aber trotz dieser konservativen Schulform war die Schachgruppe des Johanneums alternativ und fortschrittlich. Sportliche Erfolge zählten weniger als ein gleichberechtigtes Miteinander, in dem jedes einzelne Mitglied des Vereins seine eigenen Interessen hinten an stellte und zum Gelingen des Ganzen beitrug.
Der hier durchscheinende Glaube an die Möglichkeit antiautoritärer, basisdemokratischer Organisationen und der religiöse Ernst, mit dem für diese Überzeugungen gefochten wurde, war typisch für die Zeit. Damals gingen Hunderttausende für Frieden und Abrüstung auf die Straße und demonstrierten gegen die Atomkraftwerke in Brokdorf und anderswo. Die Grünen formierten sich als Partei, WGs wurden populär und in zahllosen Kleinbetrieben und Organisationen probierte man alternative Lebensweisen aus. Zugleich war es die Zeit von Baader-Meinhof, der Anschläge und Morde der RAF und der hysterischen Aktionen des Staates und der Polizei gegen alles, was auch nur entfernt im Verdacht stand, mit den Terroristen zu sympathisieren.
All das wirkte sich auf den Schachklub aus. Auf einer profanen Ebene durch die Mode: lange Haare, Bart, Parka und Palästinenserschal waren Accessoires, die der moderne Linke gerne trug. Weniger profan war der Versuch, die Ideale einer gerechten Gesellschaft beim Schach zu verwirklichen. So wurde lange diskutiert, wie wir die Liga angehen und wer in der Mannschaft spielen sollte, wie die Spieler, die den Aufstieg mitgetragen hatten, aber nicht aufgestellt wurden, damit umgehen würden, welche Einstellung der Einzelne zum Schach und zur kommenden Saison hatte, ob das Eröffnungsrepertoire bundesligatauglich war und wie man sich ganz generell „einbringen“ wollte. Wir spielten Schach für eine bessere Welt. Kein Wunder, dass wir uns in der Bundesliga in der Rolle des Außenseiters wohl fühlten.
Ein gelungener Start
Wir waren optimistisch und setzten auf die gute Stimmung in der Mannschaft. Viele von uns verband mehr als nur Schach: man war miteinander befreundet, traf sich privat, ging abends gemeinsam aus und fuhr zusammen in den Urlaub. Und der Start in die Saison hätte besser kaum sein können. Im Auftaktmatch besiegten wir als krasse Außenseiter den Hamburger Rivalen HSK knapp mit 4,5:3,5, wobei der Gegner allerdings ohne sein Aushängeschild Hübner angetreten war. Als in der zweiten Runde dann auch noch der zweite Hamburger Lokalrivale Favorite Hammonia deutlich, wenn auch glücklich, mit 7:1 geschlagen wurde, schien der Klassenerhalt in greifbare Nähe gerückt. Dann kam jedoch eine lange Durststrecke und am Ende stand die Ernüchterung: wir hatten trotz vieler guter Chancen das Saisonziel verfehlt.
Die Fakten
Am Ende landeten wir mit 8:22 Mannschafts- und 49 Brettpunkten auf dem 14. Platz und stiegen ab. Allerdings knapp. Denn den rettenden 12. Platz belegte Marktheidenfeld mit 10 Mannschafts- und ebenfalls 49 Brettpunkten. Da der Kampf gegen Marktheidenfeld mit 3,5:4,5 verloren ging, hätte ein einziges Remis genügt, um den Klassenerhalt zu schaffen – von anderen unglücklich verpassten Gelegenheiten einmal abgesehen.
Nachfolgend die Einzelergebnisse:
Achim Soltau 0/1
Bernd Stein 8,5/15
Siggi Weiß 3/11
Frank Behrhorst 8,5/15
Andreas Fehrig 5/15
Volker Ahmels 6/15
Wolfgang Thormann 4/13
Michael Jürgensen 7/15
Johannes Fischer 5/15
Wolfgang Hohlfeld 2/5
Dies sind die nüchternen Fakten unseres Bundesligaabenteuers. Die von uns gespielten Partien finden sich in den Datenbanken von ChessBase und sind jedem zugänglich, der sich das antun möchte. Allerdings verraten diese Zahlen und Partien nichts über die individuellen Geschichten der einzelnen Mannschaftsmitglieder und das Eigentliche jeder Mannschaft und Saison.
Mehr als nur die Fakten
Herausragend sind die Ergebnisse von Bernd Stein und Frank Behrhorst, die faktisch an 1 bzw. 3 gespielt haben. Rein zahlenmäßig lagen wir übrigens an allen Brettern weit unter dem Schnitt der Wertungszahlen unserer Gegner. Die magere Punktausbeute mancher Spieler relativiert sich dadurch etwas und liegt durchaus im Rahmen der Erwartungen. Um so bemerkenswerter sind die Leistungen von Bernd und Frank. Bernd, der damals zur erweiterten deutschen Spitze gehörte, leistete auf unauffällige Art einen großen Beitrag für die Mannschaft. Durch seine Spielstärke, aber auch durch seine professionelle Einstellung. Außerdem lieferte er das Vorbereitungsmaterial. Eine mühselige Arbeit, die man damals noch mit Kopierer, Papier, Schere und Pritt-Stift erledigen musste. Auch Frank war im Verein engagiert: er trainierte jugendliche Talente, kümmerte sich um eine Unzahl organisatorischer Arbeiten und war ein Motor der Mannschaft. Sein gutes Ergebnis zeugt von einer professionellen Einstellung, die sich in gründlicher Vorbereitung und pragmatischen Spiel zeigte.
Bei allen anderen Mannschaftsmitgliedern machte sich irgendwann die Härte der Bundesliga bemerkbar. Es schlägt eben auch auf das heiterste Gemüt, wenn man Runde um Runde gegen bessere Gegner antritt, und in schöner Regelmäßigkeit verliert oder um das Remis kämpfen muss. Dem fast immer von Zeitnot geplagten Siggi gelangen am Brett nur wenig Zauberkunststücke, und als er vier Runden vor Ende der Saison Vater wurde, blieb ihm einfach keine Zeit mehr, um am Wochenende durch Deutschland zu reisen. Auch von Wolfgang Thormann weiß ich noch, dass Zeitnot ein ständiger Begleiter seiner Partien war. Ein ums andere Mal musste er die letzten Züge in rasender Geschwindigkeit absolvieren – nicht immer mit Erfolg. Bei Andreas wurde das Medizinstudium allmählich ernster; Wolfgang Hohlfeld, der zweite Medizinstudent in unseren Reihen, war der häufigste Ersatzmann und litt, wenn meine Erinnerung mich nicht trügt, gelegentlich unter der vermeintlichen Verantwortung dieser Aufgabe.
Die Jugend
Andere Interessen und Herausforderungen, die mit dem Schach kollidierten, plagten die jugendlichen Talente. Volker Ahmels, der 1976 deutscher C-Jugendmeister und 1978 Zweiter der deutschen B-Jugendmeisterschaft geworden war, widmete sich in der Zeit zwischen Schule, Zivildienst und beginnendem Studium verstärkt der Musik, die er später zu seinem Beruf machen sollte. Michael „Mick“ Jürgensen, 1977 Zweiter der Deutschen C-Jugendmeisterschaft, hatte mit den Problemen des nahenden Abiturs und der Trennung von der ersten Freundin zu kämpfen und auf einmal war Schach nicht mehr so wichtig im Leben wie früher.
Für mich war diese Saison lehrreich und frustrierend zugleich. Ich war ein Jahr zuvor als jüngstes Mitglied in die erste Mannschaft aufgenommen worden und fühlte mich in der Umgebung der deutlich älteren Semester oft hoffnungslos unerfahren und naiv. Natürlich war das zugleich aufregend und schmeichelhaft, und mit dem Abstand von über zwanzig Jahren betrachtet, sehr bereichernd.
Und es machte Spaß, die Großmeister der Liga bei der Arbeit zu beobachten. Legendär war Robert Hübner, das Brett eins unseres Reisepartners HSK. Er war bekannt für seine vehemente Aversion gegen aufdringliche Fotografen, und das verlieh dem Beginn der Kämpfe immer einen besonderen Reiz. Interessant war auch zu verfolgen, welcher Schiedsrichter von Hübner das Originalformular verlangte und wer sich aus Furcht vor der Autorität des Meisters mit einem Durchschlag begnügte. Zaghaften Versuchen meinerseits, auch einmal das Originalformular zu behalten, wurde sehr viel weniger respektvoll begegnet. Um Hübners Analysekünste rankten sich Legenden. Damals spielte man noch mit einer Bedenkzeit von 50 Zügen in 2,5 Stunden nebst anschließender Hängepartie nach einstündiger Unterbrechung. Wenn der HSK Hängepartien mit Hübner analysierte, schwankte die Stimmung zwischen intellektueller Schwerstarbeit und weihevoller Andacht.
Schachlich war ich durch die Liga allerdings überfordert. Meine Partien von damals erinnern mich an einen Nichtschwimmer, der unversehens ins tiefe Wasser gerät, aus Panik wild um sich schlägt und seinen Untergang damit nur beschleunigt. Da meine taktischen Fähigkeiten zwar ganz gut, mein Positionsverständnis und meine Eröffnungskenntnisse – vom Endspiel ganz zu schweigen – weit unter Bundesliganiveau waren, geriet ich meist schnell in bedrängte Stellungen, denen ich durch rabiate Opfer zu entkommen suchte. Meist erfolglos.
Über zwanzig Jahre später
Vor kurzem traf die damalige Mannschaft des SKJE nach über zwanzig Jahren noch einmal zusammen. An einem Sonntagmorgen in Hamburg. Leider konnten nicht alle kommen: Frank war in Kairo, wo er an der Deutschen Schule unterrichtet, Sigi Weiß und Wolfgang Thormann hatten keine Zeit; und warum Achim Soltau und Wolfgang Hohlfeld nicht kamen, weiß ich nicht. Aber Bernd, Volker, Andreas, Mick und ich haben noch einmal über die alten Zeiten geredet. So mancher Bart ist ab, das Haupthaar ist kürzer, dünner und grauer geworden und die Erinnerungen sind verblasst: „Haben wir nun gegen den HSK gewonnen? Oder unentschieden? Oder verloren?“ Bernd, mit immer noch präzise funktionierendem Gedächtnis, sagt „4,5 gewonnen“, was ein Blick in die Tabelle bestätigt.
Schnell kommt das Gespräch auf den Bruch mit Achim, der allen lebhaft im Gedächtnis geblieben ist und der große Wermutstropfen der damaligen Saison war. Was war geschehen? Vor dem Auftaktmatch gegen den HSK hatte die Mannschaft aus taktischen Gründen beschlossen, unseren Stammspieler am ersten Brett, Achim Soltau, gegen seinen erklärten Protest pausieren zu lassen. Achim, Richter von Beruf und einer der stärksten deutschen Fernschachspieler, war in der 2. Liga eine der Stützen der Mannschaft gewesen und konnte am Spitzenbrett durch seine theoretischen Kenntnisse viele Gegner ausbremsen. Er hatte den Aufstieg in die 1. Liga enthusiastisch begleitet und sich um Kontakte zu Sponsoren bemüht, die immerhin zu einer Spende von 1000 DM der Firma Schirm Eggers führten. Der Streit eskalierte, als Achim in der dritten Runde am ersten Brett gegen Delmenhorst in einer Modevariante kläglich verlor. Achim fühlte sich von der Mannschaft insgesamt ungerecht behandelt und kündigte an, den Rest der Saison nicht mehr zur Verfügung zu stehen. Damit fehlte ein wichtiger Spieler und der Zugriff auf die gesammelten Spenden wurde kompliziert. Und so ruhen die 1.000 DM Sponsorengeld noch heute unberührt auf ihrem Konto. Aber die ideellen Folgen dieses Streits, der das Selbstverständnis unseres Teams erschütterte, waren vielleicht noch schlimmer. Es war eben nicht einfach, die potenziell widersprüchlichen Wünsche nach Leistung, nach Spaß und dem schönen Gefühl, Teil einer harmonischen Mannschaft zu sein, miteinander zu vereinbaren. Achims Austritt aus der Mannschaft ließ diese schlummernden Konflikte offen zutage treten. Aber bis zum Ende der Saison und weit darüber hinaus wurden sie nie ausgetragen – weder mit Achim noch untereinander. Schließlich hätte das die eigenen Weltanschauungen, Träume und Wünsche unbequem und nachdrücklich in Frage gestellt.
Jetzt, nach über zwanzig Jahren, fällt das leichter. Kurz nach dem Treffen fragt Mick Achim nach der nie genutzten Spende von damals, und Achim verspricht, das Geld umgehend dem SKJE zur Verfügung zu stellen – für die Jugendarbeit. Der ideologische Eifer ist einer pragmatischen Reife gewichen, was sich auch in den Lebensläufen widerspiegelt. Frank hat sich als Lehrer um das Schach an der Wichern-Schule verdient gemacht und ist der Initiator der großen Wichern-Open. Mick hat nach dem Abitur Mathematik studiert, dann Zivildienst geleistet, und anschließend noch ein Studium der Sozialpädagogik absolviert. Er arbeitet heute als Sozialarbeiter bei den Ev. Anstalten Alsterdorf. Andreas ist Arzt und Psychotherapeut geworden und Volker Ahmels engagiert sich als Direktor des Musikkonservatoriums in Schwerin und als Pianist von internationalem Renommee besonders für die Erforschung jüdischen kulturellen Lebens in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten. Bernd ist so unauffällig hilfsbereit und engagiert wie eh und je. Geprägt hat der Verein und seine Atmosphäre vermutlich alle. Einmal flammt noch eine kurze politische Diskussion auf, die aber bald zum Erliegen kommt. Lächelnd wird abgebrochen und wir sprechen wieder über die Dinge, die uns am Herzen liegen.