IM WALD DER VARIANTEN
VON WILLY HENDRIKS
Der Stil eines Schachspielers lässt sich auf vielerlei Weise beschreiben, mehr oder weniger positiv, aber gegen die Bezeichnung „dynamisch“ wird wohl niemand etwas einwenden. Ein solches Wort, mit dem sich jeder wohlfühlt, wirft jedoch sofort die Frage auf: hat es auch eine Bedeutung?
(Der Artikel ist auszugsweise wiedergegeben.
Den ganzen Text lesen Sie in KARL 2/25.)

Das Wort Dynamik stammt aus dem Griechischen und hat insbesondere durch den Einfluss von Aristoteles eine leichte Bedeutungsverschiebung erfahren: von Kraft (siehe das Wort Dynamit) hin zu Fähigkeit oder Potenzial (was sich bereits ein wenig im Wort Dynamo widerspiegelt). Also Kraft, die nicht tatsächlich ausgeübt wird, aber in Zukunft zum Ausdruck kommen könnte. In diesem Sinne wird es im Allgemeinen auch im Schach verwendet, aber eine Warnung ist hier angebracht: Mit diesem Begriff wird nicht sehr sorgfältig umgegangen und oft fungiert er als eine Art Zauberwort. Denn was auch immer es genau bedeutet, klar ist, dass das Wort eine sehr positive Konnotation hat. Jeder möchte gerne dynamisch Schach spielen. Ich habe noch nie jemanden getroffen, der sich selbst als statischen Spieler bezeichnet. Wobei man sich fragen kann, ob „statisch-dynamisch“ überhaupt ein guter Gegensatz ist – aber darauf werde ich noch zurückkommen.
Der Begriff „dynamisch“ kann für verschiedene Dinge verwendet werden: zur Charakterisierung einer Stellung oder eines Spielers bzw. Spielstils, als Konzept in der Schachtheorie oder zur Unterscheidung von Perioden in der Schachgeschichte. Diese Punkte werden im Folgenden alle behandelt, wobei der historischen Entwicklung besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird.
Zunächst einmal kann das Wort verwendet werden, um eine Stellung zu
charakterisieren. Eine Stellung mit vielen Möglichkeiten könnte eine Definition sein. Dabei kann man an Folgendes denken: asymmetrisch (in Bezug auf die Bauernstruktur), unausgewogen (z. B. in Bezug auf das Material), kompliziert, unklar wer besser steht, gegenseitige Angriffe usw.
Das folgende, von mir schnell zusammengestellte Diagramm mag als Beispiel für eine nicht so dynamische Stellung dienen.
Aber selbst hier kann man sich vorstellen, dass diese Partie doch noch zu einer Entscheidung kommt. Anstelle von statisch-dynamisch sollten wir besser von einem Spektrum sprechen, das von gar nicht dynamisch bis sehr dynamisch reicht.
Ausgehend von unserer Definition lässt sich die Frage nach der dynamischsten Stellung im Schach sofort beantworten: Es ist die folgende:
Alle möglichen Stellungen ergeben sich daraus, sodass es keine Stellung gibt, die mehr Möglichkeiten bietet als diese. Es ist kein Zufall, dass Richard Réti (in Anlehnung an Gyula Breyer) diese Stellung in seinem Werk Modern Ideas in Chess (1923) mit der Überschrift „Eine komplizierte Stellung“ abdruckte. Für Réti konnte die Suche nach neuen Möglichkeiten nicht früh genug beginnen.
Wenn wir aus der obigen Stellung alles außer den beiden Königen entfernen, erhalten wir die am wenigsten dynamische Stellung unseres Spiels. Aber davon werde ich dem Leser ein Diagramm ersparen.
Das Problem mit dieser Definition oder diesem Spektrum ist jedoch, dass sie ziemlich aussagelos ist. Es gibt sehr viele Stellungen, die auf sehr unterschiedliche Weise mehr oder weniger dynamisch sind. Daher ist es sinnvoll, noch eine Art Bedingung hinzuzufügen: die betreffenden Möglichkeiten müssen etwas verborgen sein. Hier könnte der Gegensatz statisch-dynamisch sinnvoll sein: Während eine „statische“ Stellung sozusagen für sich selbst spricht, liegt die Wahrheit einer
dynamischen Stellung in Möglichkeiten, die nicht direkt aus ihr abzuleiten sind.
Das kann auch eine Unterscheidung innerhalb einer Stellung bedeuten, wobei die eine Seite mehr Entwicklungsmöglichkeiten hat (während die andere Seite zwar scheinbar gut steht, aber wenig Aussicht hat, ihre Stellung zu verbessern).
Den dynamischen Spieler können wir entsprechend charakterisieren: Er/sie liebt unausgewogene Stellungen, tauscht nicht alles, was ihm/ihr in den Weg kommt, hat keine Einwände gegen unklare Stellungen, hält die Spannung aufrecht, opfert gerne Material und so weiter und so fort.
Können wir auf diese Weise auch Perioden (Stile oder Schulen) aus der Geschichte beschreiben? Die ersten, die uns dabei sofort in den Sinn kommen, sind Aron Nimzowitsch und die Hypermodernen. Ich weiß nicht, ob sie das Wort „dynamisch“ bereits verwendet haben, aber viele ihrer Credos kommen inhaltlich dem sehr nahe. Ganz deutlich wird das bereits bei Nimzowitsch in einem Artikel in der Wiener Schachzeitung von 1913. Sein Angriffsziel ist dort, wie könnte es anders sein, Siegbert Tarrasch. Nimzowitsch bespricht eine etwas ältere Partie von Louis Paulsen und will zeigen, dass dessen Stil sich vorteilhaft von dem Tarraschs unterscheidet.