EINE LIEBESGESCHICHTE
Lew Polugajewskis Aus dem Labor des Großmeisters
Von Johannes Fischer

(Der Artikel ist auszugsweise wiedergegeben.
Den ganzen Text lesen Sie in KARL 2/24.)
Viele Schachspieler neigen bei der Eröffnungswahl zum Pragmatismus: wenig Theorie, keine komplizierten Varianten, klare Pläne, minimaler Aufwand. Lew Polugajewski ging andere Wege: Er brannte für eine Eröffnungsvariante, in der jeder falsche Zug fatal sein konnte, in der man eine Unzahl von Varianten sehr genau kennen musste und die als theoretisch anrüchig galt: der nach ihm benannten Polugajewski-Variante, einem der schärfsten Abspiele des an scharfen Abspielen nicht gerade armen Najdorf-Sizilianers. Sie entsteht nach den Zügen 1.e4 c5 2.Sf3 d6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 a6 6.Lg5 e6 7.f4 b5!?. Anders als es zunächst scheinen mag, kann Weiß hier keine Figur gewinnen, da Schwarz nach 8.e5 dxe5 9.dxe5 Dc7 spielt, um nach 10.exf6 De5+ den ungedeckten Läufer auf g5 einzusammeln und Weiß an die Schwächen in seiner Stellung zu erinnern.
Polugajewski wurde am 20. November 1934 in Mahiljou, im heutigen Belarus, geboren, und starb am 30. August 1995 in Paris an den Folgen einer Krebserkrankung. In den 70er Jahren gehörte er zu den besten Spielern der Welt und schaffte es zwei Mal (im Juli 1972 und im Januar 1976) auf Platz drei der Weltrangliste. Drei Mal landete er bei sowjetischen Meisterschaften auf dem geteilten ersten Platz und drei Mal qualifizierte er sich für die Kandidatenwettkämpfe, wo er allerdings einmal an Anatoli Karpow (1974 im Viertelfinale, Polugajewski verlor klar mit 2,5:5,5) und zwei Mal an Viktor Kortschnoi scheiterte (1977 unterlag Polugajewski im Halbfinale mit 4,5:8,5, drei Jahre später, im Halbfinale 1980, dann mit 6,5:7,5).
Polugajewski galt als fleißig, diszipliniert und als hervorragender Theoretiker und Analytiker. Er arbeitete als Sekundant und Trainer von Karpow und trainierte nach seinem Umzug nach Paris 1989 auch eine Reihe französischer Talente, unter anderem Joël Lautier. Doch Polugajewskis bleibendes Vermächtnis ist sein Buch Aus dem Labor des Großmeisters, eines der interessantesten Eröffnungsbücher aller Zeiten. Dabei ist es kein klassisches Eröffnungsbuch, denn Polugajewski empfiehlt kein Repertoire und liefert auch keinen Überblick über die verschiedenen Möglichkeiten von Schwarz und Weiß und den aktuellen Stand der jeweiligen theoretischen Abspiele. Stattdessen schildert er mit Hilfe detaillierter Analysen seine Jahrzehnte lange leidenschaftliche Liebe zur Polugajewski-Variante und seine unermüdlichen Versuche, die theoretische Korrektheit dieser Variante nachzuweisen. Polugajewskis Leidenschaft für dieses System begann zwischen 1956 und 1957, als er den Zug 7…b5 zusammen mit dem sowjetischen Meister Juri Schaposchnikow, der wie Polugajewski in der russischen Stadt Kuibyschew wohnte, das erste Mal analysiert. Mit der Zeit begeisterte sich Polugajewski immer mehr für die vielen Möglichkeiten des Schwarzen. „Im Laufe eines halben Jahres verbrachte ich täglich (!) [Ausrufezeichen im Original] mehrere Stunden am Brett mit Stellungen aus der Variante, und als ich spät abends einschlief, erschien mir die Variante im Traum. … Sie war, bildlich ausgedrückt, eine Zeitlang mein ‚zweites Ich‘ geworden.“ (Lew Polugajewski, Aus dem Labor des Großmeisters, Düsseldorf: Rau Verlag 1980, S. 28.)
Doch der Zug 7…b5 galt damals als theoretisch anrüchig und kaum spielbar. So zitiert Polugajewski eine Reaktion Wassily Smyslows auf dieses Eröffnungsexperiment: „Den nächsten Markstein in der Entwicklung der Variante stellt meine Partie gegen Bagirow dar, die im Januar 1960 bei der UdSSR-Meisterschaft in Leningrad ausgetragen wurde. Als ich meinen 15. Zug ausführte und mich vom Spieltisch erhob, kam Smyslow auf mich zu und sagte mit einer Stimme, in der Tadel ganz deutlich zu hören war: ‚Oh, Leo, Leo! Was erlauben Sie sich in Ihren jungen Jahren? Bei Ihnen stehen ja alle Figuren noch auf der letzten Reihe! Reicht Ihnen diese Variante in einer einzigen Partie pro Meisterschaft nicht aus? Schonen Sie lieber Ihre Nerven!’“. (S. 54). Aber Polugajewski wollte weder sich noch seine Nerven schonen, sondern seiner Variante die Treue halten: „In meinem Inneren war ich fest davon überzeugt, daß ich die Variante so lange spielen werde, bis ich auf ihre absolute Widerlegung stoße. Und dann … werde ich ihre Analyse fortsetzen. Ich werde eine Widerlegung der Widerlegung suchen.“ (S. 54).
(Der Artikel ist auszugsweise wiedergegeben.
Den ganzen Text lesen Sie in KARL 2/24.)