MIT OFFENEM VISIER

Selten gab es vor einer Weltmeisterschaft so viel Skepsis – und selten so viel Begeisterung danach. Das Match zwischen Jan Nepomnjaschtschi und Ding Liren stand von Beginn an im Schatten des Rücktritts von Magnus Carlsen. Doch nach wenigen Runden war die Schachwelt Feuer und Flamme für einen nervenaufreibenden, mitreißenden und kompromisslosen Kampf mit vielen Höhen und Tiefen. Nach einem 7:7 im klassischen Durchgang und sechs entschiedenen Partien schrieb Ding nach drei Remisen mit dem Gewinn der vierten Schnellpartie des Tiebreaks
Geschichte und wurde erster chinesischer Schachweltmeister.

HARRY SCHAACK, der sich als einer von drei westeuropäischen Journalisten das Drama in Astana aus der Nähe angesehen hat, fasst das Geschehen zusammen. Die Partien kommentieren die Großmeister MIHAIL MARIN und ALEXANDER DONCHENKO.

 

WM 2023 Nepo - Ding
(© Harry Schaack)

(Der Artikel ist auszugsweise wiedergegeben.
Den ganzen Text lesen Sie in KARL 2/23.)

Es ist Remis, ein Dauerschach. Das wissen alle Kommentatoren. Jeder erwartet eine Verlängerung des Tiebreaks, alle beschäftigen sich schon mit den folgenden Blitzpartien. Doch diese vierte Schnell­partie wird anders verlaufen. Es ist wenig Material auf dem Brett verblieben, aber die Stellung ist knifflig. Nepomnjaschtschi hatte schon einige Male ein klares Remis ausgeschlagen. Nun will Ding weiterspielen. Sein König ist ungeschützt, er hat nur noch etwas mehr als eine Minute auf der Uhr, kratzt sich noch einmal am Hinterkopf – und fesselt sich selbst mit dem schockierenden Zug 46…Tg6. Dubow sprach bei der Fide-Liveübertragung zuvor noch davon, dass er zwar keine Wider­legung von Tg6 sehe, aber dass dieser Zug „wahnsinnig“ sei. Tania Sachdev hatte den Zug auf chess.com zuvor noch als „Verlustversuch“ bezeichnet. Und ihr Kollege Caruana lässt sich zu einem „Oh my God“ hinreißen, bevor er von einer „brillanten Entscheidung“ und „groß­artigem Mut“ spricht.
Nepo zieht eines seiner Gesichter, die sein Erstaunen verraten, hatte doch auch er jetzt mit dem unvermeidlichen Friedensschluss gerechnet. Jetzt wippt er mit seinem Fuß, reißt einige Male die Augenbrauen nach oben. Die Anspannung muss unerträglich sein. Dings origineller Einfall ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt und Nepos Psyche nachhaltig erschüttert. Die Stellung ist theoretisch immer noch Remis, aber der Russe verliert den Faden. Man sieht, wie ihm die Partie aus den Händen gleitet. Mit nur noch
etwas mehr als einer Minute auf der Uhr, folgt ein ernster Fehler, der die Remis­- zu einer Verluststellung macht. Als Ding seinen Bauern schließlich nach a2 schiebt, atmet Nepo tief durch. Er schaut zur Seite, greift nach seinen neben dem Brett stehenden Figuren und wirft dabei den Springer vom Tisch. Es ist der Moment, in dem er realisiert, dass alles verloren ist, wofür er drei Wochen lang gekämpft hat. Nachdem er aufgegeben hat, wirft er beim Aufstehen fast noch seinen Stuhl um. Ding bleibt noch eine ganz Minute am Brett sitzen, vergräbt seinen Kopf in seine Hände, fassungslos und zu Tränen gerührt. Er hat Geschichte geschrieben, er ist als erster Chinese Weltmeister geworden.

WM 2023 Nepomnjaschtschi
WM 2023 Jan Nepomnjaschtschi (© Harry Schaack)

Es war das dramatische Ende einer der spannendsten und emotionalsten WM-­Kämpfe, die es seit langem gegeben hat. Diese Weltmeisterschaft bot großartiges Schach, frische Eröffnungsideen, viele Gewinnpartien, brillante Einfälle ebenso wie grobe Fehler, Zeitnotschlachten, die Veröffentlichung geheimer Vorbereitungs­partien, einen Tiebreak und nicht zuletzt selten gesehene heftige Gefühle beider Kontrahenten, am Brett und in der Presse­konferenz.

WM 2023 Ding
WM 2023 Ding Liren (© Harry Schaack)

Das Match im abgelegenen kasachischen Astana, das anfangs nur nebenbei verfolgt wurde, hatte nach wenigen Partien die schachliche Weltöffentlichkeit in ihren Bann gezogen. Sechs entschiedene Partien – einen solchen Schlagabtausch gab es auf diesem Niveau seit vielen Jahren nicht mehr. Nicht die Prämisse vergangener WM-Kämpfe, die vor allem nach dem Motto „safty first“ und „nur nicht verlieren“ stattfanden, dominierte das Spielgeschehen. In Astana schienen beide Spieler be­dingungslos auf Gewinn zu spielen und keiner Komplikation aus dem Weg zu gehen. Fast alle Partien wurden ausgespielt, auch weil Remisangebote erst nach dem 40 Zug erlaubt waren. Die Spieler strebten keine langen eröffnungstheore­tischen Duelle an, sondern unverbrauchte Stellungen, die viel Raum für praktisches Spiel boten. Zudem mag die Zeitkontrolle – zwei Stunden für 40 Züge plus eine Stunde 20 Züge und Zeitzugabe erst nach dem 60. Zug – dazu beigetragen haben, dass mehr Partien als sonst entschieden wurden.

WM 2023 9. Partie
WM 2023, 9. Partie (© Harry Schaack)

Die beiden Kontrahenten, vor allem Ding Liren, trugen dazu bei, dass ein ganz neuer Ton in den Pressekonferenzen nach den Partien herrschte. Obwohl der Chinese nicht sonderlich gut Englisch spricht, verzichtete er auf einen Dolmetscher. Weil er sich an die Umgebung anpassen wollte, be­­stand er darauf, auf Englisch zu antworten, auch wenn er oft nach den richtigen Worten rang. Während sich die Spieler gewöhnlich bei solchen Wettkämpfen bedeckt halten und oft wortkarg sind, brachte Ding einen fast schon philosophischen Touch in die Veranstaltung. Zudem sprach er in einer offenen Weise über seine Gefühle, wo andere ihre Schwächen gewöhnlich verbergen.
Der Verlauf des Matches hätte theatra­lischer nicht sein können. Nach jeder Nieder­lage schien das Momentum auf die andere Seite gewechselt zu sein, was eine zuverlässige Prognose unmöglich machte. Ding Liren sah dreimal wie ein geschlagener Mann aus. Doch immer wieder kam er zurück, um schließlich im Tiebreak in einer Remisstellung, mit wenig Zeit auf der Uhr, auf Gewinn zu spielen und seinen Kontrahenten niederzuringen. So wurde diese WM auch eine Werbung für das klassische Matchformat, gegen das sich Carlsen schon mehrfach ausgesprochen hat.

(Der Artikel ist auszugsweise wiedergegeben.
Den ganzen Text lesen Sie in KARL 2/23.)