EDITORIAL

LIEBE LESERINNEN, LIEBE LESER,

wie Sie sicher bemerkt haben, erscheint unsere zweite Ausgabe des Jahres aus aktuellem Anlass etwas früher als sonst.

Unser Heft widmet sich dem WM-Match zwischen Jan Nepomnjaschtschi und Ding Liren, das der 30-jährige Chinese in einer selten gesehenen Nervenschlacht gegen seinen leicht favorisierten russischen Kontrahenten im Tiebreak gewann. KARL hat die Inauguration des ersten männlichen Weltmeisters aus dem Reich der Mitte als eines von nur drei westeuropäischen Medien in Astana aus nächster Nähe verfolgt.

Vor diesem WM-Match waren viele skeptische Stimmen zu hören, weil die zehnjährige Ära von Magnus Carlsen zu Ende ging und wegen seines WM-Rücktritts der weltbeste Spieler beim Kampf um die Krone fehlte. Alle Bedenken waren wie weggeblasen, als nach den ersten Partien deutlich wurde, dass sich zwei Spieler in einer Weise duellierten, wie man es im modernen Spitzenschach nicht oft sieht. Nach wenigen Partien erkämpften sich die beiden Kontrahenten die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit. Die Weltmeisterschaften der vergangenen beiden Jahrzehnte waren vor allem von „Safty first“-Strategien geprägt. In Astana hatte man es dagegen mit zwei Spielern zu tun, die grundsätzlich keiner Komplikation aus dem Weg gingen und die beide fast bedingungslos auf Gewinn spielten. Die WM 2023 bot von vielen entschiedenen Partien bis hin zu Zeitnotschlachten, brillanten Zügen, haarsträubenden Fehlern, einem Datenleck, nervlichem Versagen sowie hochemotionalen Reaktionen alle Ingredienzien, die ein Match zu einem unvergesslichen Ereignis machen.

Das fortwährende Hin und Her dieses spektakulären Titelringens ließ kaum eine Prognose zu. Dreimal holte ein scheinbar schon geschlagener Ding den Rückstand auf, um schließlich im Tiebreak in der letzten Schnellpartie in einer vermeintlichen Remisstellung erfolgreich auf Gewinn zu spielen.

Unser Titelbild steht sinnbildlich für das Straucheln von „Nepo“: Es fängt den Moment ein, als der Russe in der sechsten Runde in der Eröffnung versehentlich einen Bauern umwarf.

Diese Ausgabe schildert die besondere Atmosphäre vor Ort, die einen WM-Kampf unverwechselbar macht. Und sie lässt viele zu Wort kommen, die in Astana auch dank der zahlreichen offiziellen und inoffiziellen Nebenveranstaltungen auf die eine oder andere Weise mitgewirkt haben. Für die Partieanalysen sorgen Mihail Marin und Alexander Donchenko.

Harry Schaack