VON DER KUNST,
EINE MARKE ZU KREIEREN

Streamer-Angriff und YouTube-Variante – der Siegeszug des Schachs im Netz

Nachdem unser Autor FRANZ JÜRGEN SCHELL seine schachliche Karriere bereits 1982 beendet hatte, plante er 2019 ein Comeback. Doch schon bald kam die Pandemie dazwischen und stoppte das Turnierschach. Da entdeckte er das online-Schach – und neben den Angeboten, selbst zu spielen, die YouTube- und Streamer-Szene.

(Der Artikel ist auszugsweise wiedergegeben.
Den ganzen Text lesen Sie in KARL 2/22.)

The Big Greek
The Big Greek: Der deutsche YouTube-Branchenprimus IM Georgios Souleidis erläutert eine Eröffnungsfalle in der Spanischen Partie.

Manchmal wundert sich Georgios Sou­leidis, wie viele Leute ihn kennen, die gar nichts mit Schach zu tun haben. So fragte ihn kürzlich seine griechische Nichte, ob er „der von YouTube“ sei. Tatsächlich ist er nach eigener Vermutung der einzige in Deutschland, der von seinem Videokanal mit Schachinhalten gut leben kann. Unter dem ironischen Titel „The Big Greek“, kurz TBG, startete er erst 2019 seinen Kanal, auf dem er aktuelle Großmeisterpartien vorstellt, aber auch Lehrvideos wie „die goldenen Eröffnungsregeln“, auch Computerschach und die Partien der Netflix-Serie Damengambit. Inzwischen hat er 114.000 Abonnenten und über 26 Millionen Aufrufe – alleine seine Eröffnungsregeln wurden 1,4 Millionen Mal angeklickt. Damit liefert sich Souleidis ein Rennen um die Marktführerschaft mit Großmeister Niclas Huschenbeth, der zwar sogar 27 Millionen Aufrufe hat, aber die 100.000 Abonnenten erst noch er­reichen muss. Da GMHuschenbeth bereits seit 2012 Videos veröffentlicht, ist der kometenhafte Aufstieg des „Griechen“, der in Hagen geboren wurde und in Hamburg lebt, umso beeindruckender.

GMHuschenbeth
Seriöse Analyse bei GMHuschenbeth

 

In der Schachwelt war der Internationale Meister Souleidis zuvor bekannt als Redakteur für die Schachbundesliga, er arbeitete für Schachturniere in Dortmund und Karlsruhe, aber er schrieb auch für den Spiegel und DPA, war als Schachautor tätig und veröffentlichte Bücher zusammen mit Karsten Müller. Das ist vorbei, sein Beruf ist jetzt die online-Präsentation von Schach. Für ihn ist es lukrativer, die größte Schachonline-Community mit neuen Inhalten zu versorgen. Zahlen nennt er nicht, aber Souleidis kann seinen Lebensunterhalt sehr gut davon bestreiten. Die Einnahmen von YouTube richten sich nach den Werbeeinblendungen und grob sollen sie bei 1-2 €/1000 Klicks liegen, bei erfolgreichen YouTubern eher etwas höher. Souleidis ist hierzulande auch bislang der Einzige, der mit Kooperationen jenseits der Schachplattformen Geld verdient, z. B. mit der Firma SteelSeries.

Videoproduktion in einer Stunde – und das fast täglich
Garry Leusch kann von solchen Ein­nahmen nur träumen. Sein Kanal „Gunny‘s Chessalyze“ hat 2500 Abonnenten. Während Huschenbeth und Souleidis im deutschsprachigen YouTube-Schachorbit mit Rekordzahlen einsam ihre Kreise ziehen, klafft dahinter eine riesige Lücke: Alle, die danach kommen, haben nur vierstellige Abonnentenzahlen. Leusch nennt seine YouTube-Einnahmen einen „Witz“, ein paar Hundert Euro, die er dafür erhält, betrachtet er allenfalls als Aufwandsentschädigung. „Ich mach‘s nicht wegen des Geldes, sondern weil ich es machen will“, sagt er. Er möchte einfach sein Hobby mit anderen teilen. Dafür zeigt er die aktuellen Ereignisse im Spitzenschach, hin und wieder macht er Eröffnungsvideos von Varianten, die er selbst gerne spielt. „Die Leute sollen Spaß haben, an dem, was so passiert“, sagt Leusch – sie sollen einfach ähnlich empfinden wie er.
Seit neuestem zeigt die Statistikseite Analytics von YouTube, wonach die Zuschauer gesucht haben. Da wundert er sich manchmal, auf welchen Wegen die Zuschauer zu seinen Videos fanden: Auf Platz eins steht „Praggnanandhaa“, dann folgt „Caro-Kann-Defence“ (über die Eröffnung hat er noch kein Video gemacht), Platz drei ist „Firouzja“ und auf vier „Healthy Cooking“. Auch über die Zuschauer bietet die Videoplattform detaillierte Informationen. So weiß Leusch, dass über 99 % seiner Zuschauer Männer sind, von denen 40 % am PC schauen, 35 % auf dem Handy, 15 % auf dem Fernseher und weniger als 10 % auf einem Tablet. Etwa die Hälfte sind zwischen 45 und 65 Jahre alt.
Fast täglich veröffentlichen Souleidis und Leusch neue Videos. Einfache Partie­analysen zu erstellen dauert bis zum fertigen Video maximal eine Stunde, Eröffnungsvarianten sind deutlich aufwändiger.
YouTuber müssen dabei viele Fähigkeiten vereinen. Neben dem Inhalt braucht es Technik, wie Souleidis erklärt: Man muss Videos schneiden, vertonen, beschriften, Thumbnails (Vorschaubilder) anfertigen, Szenen bauen; man braucht ein gutes Equipment mit Mikrofon und Kamera. Es steckt eine Menge Arbeit dahinter. Leusch macht das alleine, Souleidis und Huschenbeth lassen sich dabei unter­stützen. Und dann muss alles noch einer guten Dramaturgie folgen und ansprechend vor der Kamera präsentiert werden, denn die meisten Schachvideos auf YouTube zeigen auch den Kommentator.

Die Großverdiener: GothamChess und Agadmator
Auch wenn der beim Hamburger Schachklub von 1830 spielende Grieche den deutschsprachigen Raum dominiert, so ist er auf YouTube international betrachtet eher ein vergleichsweise kleines Licht. So hat GothamChess, hinter dem sich IM Levy Rozman aus New York verbirgt, mit 1,47 Millionen Abonnenten Ende 2021 den Agadmator als reichweitenstärksten Kanal abgelöst. Der wird vom Kroaten Antonio Radić betrieben und hat 1,23 Millionen Abonnenten. Bei den Aufrufen liegt er mit 580 Millionen gegenüber den 380 Millionen von Rozman noch deutlich vorne. Nummer drei ist GMHikaru (Nakamura) mit 1,26 Millionen Abonnenten und 330 Millionen Aufrufen. Alle drei dürften monatlich mindestens fünfstellig ver­dienen, Rozman und Nakamura sind zudem erfolgreich auf TwitchTV, was beiden noch mal mindestens 20.000 Dollar im Monat einbringen dürfte. Sehr wahrscheinlich erwirtschaftet lediglich Weltmeister Carlsen höhere Einnahmen mit Schach als dieses Trio – selbstredend übertreffen sie damit ökonomisch auch jeden anderen Top 100 Spieler der Welt.

Agadmator
Einer der reichweitenstärksten YouTube-Kanäle: Agadmator


Warum sind diese Kanalbetreiber so erfolgreich? Radić ist mit einer Elo von etwa 2000 ein ordentlicher Schach­spieler, aber kein Titelträger. Betrachten wir sein Bildschirmdesign: Es ist gut aus­balanciert zwischen Übersichtlichkeit und Detailreichtum. Links vom selbst verständlich dominierenden Schachbrett sieht man Passfotos der Spieler, oben ein wechselndes Schachzitat und rechts Radić selbst. Hinter ihm ist ein Wohnzimmer mit Couch erkennbar, auf der oft sein Hund Medo ruht, Namensgeber für ein online-Blitzturnier. Rechts oben ein Foto des Ex-Weltmeisters Michail Tal und die letzten Spender höherer Summen mit namentlicher Nennung. Seine Videos wirken fast ritualisiert, mit einer Reihe von Running Gags, die Stammzuschauer schon kennen – und selbstredend erwarten. Das geht von der immer gleichen Begrüßung „Hello everyone“ über die Einführung, in der er in charmantem Englisch mit slawischem Zungenschlag ausführlich erklärt, warum die Partie gezeigt wird und wo sie gespielt wurde, bis zu der Floskel „there is nothing you can do here“ bei der Aufgabe am Ende. Dazu gehört auch sein Lob für den Zug b2-b4, egal wann er während der Partie gespielt wird. Allerdings folgt immer der Hinweis, eigentlich solle er als vierter Zug folgen, denn Radić ist ein bekennender Anhänger des Evans Gambits. Auch aus seiner Begeisterung für die Taktikvirtuosen Michail Tal und Raschid Neschmetdinow oder Morphys weniger bekannten Zeitgenossen Thomas Wilson Barnes macht er keinen Hehl. Auch auffallend: Der Agadmator schneidet seine Videos nicht und nimmt sie nicht mehrfach auf. Wenn beispielsweise der Paketbote klingelt und er die Präsentation unterbricht, um die Tür zu öffnen oder er etwas vom Boden aufhebt, bleibt das im Video sichtbar. Dadurch sind seine Videos nicht perfekt, aber sehr authentisch. Seine Versuche mit einem Podcast und einem Schachmanga völlig neue Medienformate einzuführen, scheinen hingegen nur begrenzt erfolgreich zu sein, jedenfalls hat man lange nichts mehr davon gehört.

Gotham Chess
Eine Playlist von GothamChess, hinter dem sich der New Yorker IM Levy Rozman verbirgt.

 

GothamChess punktet anders: IM Rozman wirkt wie ein erwachsen gewordener Harry Potter, der aber das Staunen über die Magie des Geschehens auf den 64 Feldern nicht verloren hat und es mit dem überschäumenden Temperament eines engagierten Fußball- oder Boxreporters kommentiert. Das wirkt eindringlich, leiden­schaftlich, mitunter fast hypnotisch und ist ausgesprochen unterhaltsam. Bei Rozman ist Schach keine ruhige und stille Angelegenheit, vielmehr lässt er sich von der Spannung mitreißen, egal ob Großmeister der Spitzenklasse oder namen­lose Amateure in absurden Begegnungen voller Fehler antreten. Ebenso vielfältig sind seine Themen. Auch gibt es bei ihm einiges, das fachlich sehenswert ist, beispielsweise sein Video „How Magnus Carlsen Learned From AlphaZero“, in dem er aufzeigt, wie der Weltmeister – und sicher auch andere Spieler der Weltspitze – von Engines zu Vorstößen mit Flankenbauern inspiriert wurde. Zur absoluten Hochform läuft der heißblütige New Yorker immer dann auf, wenn es um Cheater geht. Die Plattform Chess.com hat eine Funktion, enttarnte Spieler, die ein Programm zu Hilfe nehmen, nur noch gegen andere Cheater spielen zu lassen – bevor sie gesperrt werden. Wie GothamChess eine solch groteske Partie kommentiert und deren Züge mit Hilfe seiner eigenen und damit der dritten beteiligten Engine voraussagt, ist Schachentertainment vom Feinsten.
Es fällt auf: Erfolgreiche YouTube-Kanäle bieten einen hohen Wiedererkennungswert. Das reicht von der Einleitung über die Gestaltung bis zu stilistischen Elementen. Damit sind sie Marken oder Brands wie eine Waschmittel- oder Schoko­ladensorte. Auch The Big Greek und Chessalyze haben natürlich diesen Wiedererkennungswert.

(Der Artikel ist auszugsweise wiedergegeben.
Den ganzen Text lesen Sie in KARL 2/22.)