APPLIKATION DES WISSENS
Von Harry Schaack
Boris Gelfand,
Technical Decision Making in Chess,
Quality Chess 2020, 320 S.,
Hardcover, 29,99 Euro (Paperback, 24,95 Euro)
Boris Gelfand,
Decision Making in Major Piece Endings,
Quality Chess 2020, 320 S.,
Hardcover, 29,99 Euro (Paperback, 24,95 Euro)
(Das Rezensionsexemplar wurde freundlicherweise von der Schachversand Niggemann zur
Verfügung gestellt.)
Die bei Quality Chess erschienene Reihe „Decision Making“ von Boris Gelfand zählt zu den besten Lehrmaterialien für Spieler, die es zu höheren Weihen bringen wollen. Nachdem sich die ersten beiden Bände dem Positionsspiel und der Dynamik widmeten, sind 2020 gleich zwei Bücher erschienen, die sich mit der Technik beschäftigen.
Gelfand zählte 20 Jahre lang zu den besten Spielern der Welt und spielte um die Weltmeisterschaft, aber er ist kein Lehrer oder Trainer. Das Material dieser Bücher ist erst durch das Zusammenspiel mit Jacob Aagaard zu einem bedeutenden Lehrstoff gereift. Durch Aagaards hartnäckige Fragen im Interview mit Gelfand gelangt die Partiekommentierung zur didaktischen Essenz.
Eine der großen Leistungen dieser Bücher ist es, eine Verbalisierung komplizierter schachlicher Vorgänge gefunden zu haben, die den Entscheidungsprozess nachvollziehbar macht. Dabei steht stets die praktische Anwendung theoretischen Wissens, also wie man solches Wissen am Brett implementieren kann, im Mittelpunkt der Betrachtung. In der Einführung weist Gelfand darauf hin, dass es in diesen Büchern nie darum geht, wie man gewinnt, sondern warum.
Unter „Technik“ versteht man die Verwertung eines statischen, langfristigen Vorteils, der eine Schwäche, ein materieller Vorteil oder eine bessere Figurenstellung sein kann – bzw. die Verteidigung solcher Stellungen. Absicht dieser Bücher ist keine generelle Theorie des technischen Spiels. Diese Bücher handeln von ganz praktischen Problemen, die man nicht häufig in der Schachliteratur behandelt sieht, wie etwa dem Verhältnis zwischen Analyse und Entscheidungsfindung, Kalkulation und Intuition, wann muss man konkret rechnen, wann einfach nur seine Stellung verbessern. Timing ist ein wichtiger Aspekt, z.B. wann man aktiv, wann man passiv verteidigen soll. Oder auch der Umgang mit Wendepunkten im Partieverlauf.
Besonders erhellend sind die Anmerkungen zum Umgang mit Computern: Jede passive Nutzung der Engine macht einen zu einem schlechten Spieler, sagt Gelfand. Erst in der tiefen Analyse kann man herausfinden, wie diese oder jene Bewertung zustande kommt und dadurch einen Lernzuwachs erhalten.
Wenn der Computer eine Stellung als ausgeglichen bewertet, heißt das meist nicht, dass die praktischen Chancen gleich sind, weil z.B. eine Seite deutlich mehr Probleme lösen muss. Solche Stellungen werden im Spitzenschach angestrebt.
Außerdem sind die Momente, in denen ein Schachprogramm einen Vorteil für eine Seite anzeigt, häufig nicht die entscheidenden Fehler. Aus praktischer Sicht haben sich meist schon zuvor schlechtere Züge eingeschlichen, die zu kleineren Problemen führten, die sich dann zu Schwierigkeiten ausgewachsen haben. Irgendwann kippt die Stellung, die nur noch mit äußerster Präzision zu halten war, die am Brett kaum zu leisten ist. Gelegentlich macht man unnötige Konzessionen, die die Engine immer noch neutral bewertet, bei Großmeistern aber bereits Bedenken hervorrufen.
Gelfand beschäftigt sich schon sein ganzes Leben lang mit Turmendspielen und man merkt gerade Major Piece Endings, das Aagaards Lieblingsbuch der Serie ist, die analytische Leidenschaft an. Man spürt, wie viele Stunden an Arbeit in dieses Buch eingeflossen sind. Schwerfigurenendspiele sind die Krone der Endspiele. Sie sind sehr komplex und meist selbst mit Hilfe starker Engines und Tablebases nicht vollständig zu entschlüsseln.
Obwohl es um elementare Endspiele geht, ist Major Piece Endings kein theoretisches Werk. Es geht immer um das Lernen aus praktischen Partien und die Entscheidungsfindung am Brett. Der Leser erfährt, wie ein Top-GM theoretisches Wissen im Endspiel anwendet. Gelfand erinnert von den Endspielen meist nur die Kernideen, von denen er sich durch die Stellung navigieren lässt. Den Rest muss er am Brett finden.
Ein größerer Komplex beschäftigt sich mit Damenendspielen mit nur noch einem Bauern. Damenendspiele können nicht sinnvoll abgespeichert werden, weshalb man sich einige Zielstellungen merken und die generellen Ideen verinnerlichen sollte. So meint Gelfand: „Die Tablebase stimmt mir nicht ganz zu, aber in einer praktischen Partie ist es viel einfacher, den Bauern auf die vorletzte Reihe vorzuschieben, weil das Endspiel sehr schwierig zu verteidigen ist, selbst wenn man die Verteidigungsideen kennt.“
Großartig ist, wenn Gelfand z.B. zu diesem oder jenem Engine-Vorschlag meint: „Ich glaube nicht, dass es für mich möglich war, diesen Zug während der Partie zu finden.“ An anderer Stelle heißt es: „Es ist Unsinn, dass die Engine hier den entscheidenden Fehler sieht. Der geschieht schon einige Züge zuvor, als ein menschlicher Gewinn noch möglich war.“
Diese beiden Bücher sind eine Verbeugung an die Tiefe des Spiels.