VON SÜCHTEN UND NIEDERLAGEN

Von Jörg Hickl

Jörg Hickl
Jörg Hickl ((Foto: © Harry Schaack)

(Der Artikel ist auszugsweise wiedergegeben.
Den ganzen Text lesen Sie in KARL 2/20.)

Die aktuell herrschende Pandemie stellt für alle Sportarten eine große Herausforderung dar. Trotz eingestellten Ligabetriebs erlebt Schach dabei jedoch eine Sonderstellung: Kurzerhand zog sich die Community in das corona­freie Internet zurück. Auf diversen Portalen stehen rund um die Uhr Spielpartner zur Verfügung.

Auch ich war auf dem Server einige Jahre präsent – die ersten Gehversuche erfolgten auf der Deutschen Internetblitzmeisterschaft 2003. Der falsche Ort für den Anfang – hätte ich mich doch im Vorfeld einer solchen Veranstaltung mit dieser damals noch recht neuen Disziplin vertraut machen sollen. Die Unterschiede zum gewohnten Brettschach sind erheblich: Die Maus stellte sich als erklärter Feind heraus, Figuren fielen öfter an unbe­ab­sichtigten Stellen auf das Brett oder Partien wurden aufgrund falscher Zeitein­schätzung verloren.

In den Folgemonaten übte diese Art des Schachspielens eine steigende Faszination aus und gehörte durchaus zum täglichen Abend- oder besser Nachtprogramm. Statt sinnvollerweise frühzeitig ins Bett zu gehen, schleppte ich mich zu später Stunde an den Rechner, um mit Unbekannten in Honolulu, New York oder Trier ein paar Partien zu hacken. Verstärkte Praxis spiegelte sich schnell in einer steigenden Elozahl Richtung 3.000 (überhöhte „Server-­Elo“) wider, ehe ein jäher Absturz mich zurückholte. Dass die nahe Kirchen­uhr dabei längst Mitternacht geschlagen hatte, interessierte ebenso wenig wie die innere Stimme, die klar den mangelnden Fortschritt auf der Evolutionsleiter erkannte und die gegenwärtige Beschäftigung als sinnlos anmahnte. Immer weiter ging es – getreu dem Motto: „Wer die Nächste gewinnt, hat alle gewonnen“. Wie bei einem Computerspiel nimmt man sich vor, bei Erreichen des nächsten Levels aufzuhören. Kaum kommt dieser Moment, entwickelt sich ein Zwang, die neue Umgebung noch einmal „kurz“ zu inspizieren und es endet im Morgen­grauen durch den Weckruf zwitschernder Vögel. Ein Gläschen Rotwein reduziert während des Praktizierens eventuell aufkommende Schmerzen.

Gut 3.000 gespielte Partien sind für Serverjunkies nicht viel, entsprechen jedoch 300 Stunden oder knapp 40 Arbeitstagen. Es wurde regelrecht zur Sucht und erst als ein Holländer bei seiner Krankenkasse um eine Therapie wegen (Schach-)Spielsucht anfragte, wurde mir die Dimension meines Tuns gewahr. Ich stellte daraufhin einige Monate später das Serverschach komplett ein.

Doch bis dahin war noch eine Menge Luft. Viele Begegnungen sind lebhaft in Erinnerung geblieben: Zwei eindeutige Niederlagen gegen Kasparow, das Auf­einandertreffen mit dem aufstrebenden deutschen Jungtalent „Alexander Magnus“, heute bekannt als Georg Meier, der mit 17 schon zäh war, ein Plusergebnis aus vielen Partien gegen Nigel Short und nicht zuletzt die Nacht mit „Star Wars“, eine Begegnung der besonderen Art.

Kurz nach Mitternacht, 18 Uhr New Yorker Zeit, kam ich auf die glorreiche Idee, das damals auf dem Server bereits hoch gehandelte Jungtalent des amerikanischen Schachs, Hikaru Nakamura, herauszu­fordern. Immerhin lag seine reale Elo mit ca. 2550 doch 50 Punkte unter meiner. Klar, dass dem 16-Jährigen mal eine Lehrstunde zu erteilen sei. Doch schnell wich der arrogante Optimismus einer sich minütlich verstärkenden Depression. Zwar spürte ich meine eindeutige strategische Überlegenheit, doch spielt das keine Rolle, wenn man den Knall nicht hört und ein Stück verlorengeht. Taktisch spielte Amerikas Wunderkind bereits damals brillant, aber vor allem seine Geschwindigkeit war atemberaubend. Diverse Gewinn­stellungen endeten auf tragische Weise. Ich verlor sogar Dame gegen Bauer. Wenn die Niederlagenzahl zweistellig wird, sollte man eigentlich den Absprung schaffen, doch irgendwie schleppte ich mich bis zum 14:0, bevor die Einsicht kam.

Nun gut, es gab selten einen gesunden Schachspieler, der eine Partie verlor, und auch ich kann mit später Stunde Wein, Alter, sowie einige weitere Argumenten in die Waagschale werfen, doch letztendlich war er damals wohl schon der Bessere. Obwohl – ein 6:8 wäre wohl drin gewesen …

Unter dem damaligen Eindruck prognostizierte ich Amerikas drittem Schachgenie nach Samuel Reshevsky und Robert Fischer einen schnellen Aufstieg in die Weltklasse, doch dauerte es weitere acht Jahre, bis er es schließlich schaffte. Deutlich weniger Internetschach und mehr Seriosität führten ihn zeitweise auf den zweiten Platz der Weltrangliste.

Mit nun 32 Jahren sieht er seine Berufung aber nicht mehr im Turnierschach, sondern begreift sich als Schach-Streamer, der sein Wissen an eine große YouTube-Fan­gemeinde weitergibt.

Einige Zeit nach diesem Desaster gelangte ich zur Einsicht, dass auf Schachservern kaum schachlicher Fortschritt erzielbar ist, jedoch viel Lebenszeit ins Land geht. Der anfängliche Fun-Aspekt tritt schnell in den Hintergrund – die Sucht bleibt. Seit Jahren bin ich clean!

Doch man muss nicht selbst aktiv werden: das Internet eröffnet in den letzten Jahren hervorragende Möglichkeiten, einfach nur zu konsumieren. Schach ist die einzige Sportart, die ihre Leistung kostenlos überträgt, Veranstalter geben sogar Geld dafür aus, übertragen zu dürfen. Ganz verstanden habe ich das nie – seitdem bleiben die Schachstadien einfach leer, die Zuschauer zu Hause. Zum Teil verständlich, denn einige dieser Liveübertragungen sind wirklich sehr ansprechend gemacht.

(Der Artikel ist auszugsweise wiedergegeben.
Den ganzen Text lesen Sie in KARL 2/20.)