EDITORIAL

LIEBE LESERINNEN, LIEBE LESER,

London zählt bis in die Gegenwart zu den wichtigsten Schachzentren der Welt. In der Vergangenheit, vor dem Zweiten Weltkrieg, mit der sich diese Karl-Ausgabe beschäftigt, mehr noch als heute.

Im Laufe des 19. Jahrhunderts löste die Stadt an der Themse Paris als be­deutendste Schachmetropole ab und wurde zum Motor des Schachsports. Das lag auch am legendären Simpson’s-in-the-Strand, das 1828 seine Pforten öffnete und bald zu einer der bedeutendsten Schachinstitutionen wurde. Freilich sind die ruhmreichen Schachtage, als sich mit La Bourdonnais, Staunton, Anderssen, Morphy oder Steinitz die ganze Weltelite dort versammelte, heute vorbei, wie Michael Dombrowsky in seinem stimmungsvollen Beitrag schildert.

Einer der wichtigsten Beiträge zur Versportlichung des Schachs war das erste inter­nationale Schachturnier 1851, das im Rahmen der Londoner Weltausstellung stattfand. Der Sieger hieß bekanntlich Anderssen, an Elijah Williams erinnert man sich heute dagegen kaum noch. Vielleicht auch weil Staunton ihn, nachdem er bei jenem Turnier im Spiel um den dritten Platz Williams unterlag, wegen dessen angeblich langsamer Spielweise in Misskredit brachte. Mario Ziegler versucht, einen Teil dieser falschen Zuschreibungen zu korrigieren.

Die Metropole an der Themse war immer wieder Anziehungs- und Wendepunkt für Schachbegeisterte. Michael Ehn stellt mit Jacques Mieses, Cecil de Vere und Charles H. Stanley drei besonders illustre Biographien vor, zu denen er viel Neues entdeckt hat.

1897 lieferte London, noch vor dem Auftritt der Suffragetten, mit dem ersten Internationalen Frauenturnier einen Beitrag zur Emanzipation. Michael Dombrowsky wirft auch einen Blick auf die Siegerin Mary Rudge, die das Frauenschach damals dominierte.

1922 fand nach einer Unterbrechung von über 20 Jahren wieder ein Turnier erster Güte in der britischen Kapitale statt. Capablanca gab sein Turnier­debüt als Weltmeister, überzeugte mit einem ungefährdeten Sieg und stellte nebenbei Regeln für künftige WM-Kämpfe vor, die als „London Rules“ in die Geschichte eingingen.

Beim nächsten Turnierhöhepunkt in der britischen Hauptstadt zehn Jahre später siegte erneut der Weltmeister, der jetzt aber Aljechin hieß. Mihail Marin stellt in seinen Analysen auch die beiden anderen Teilnehmer vor, die das Medieninteresse auf sich zogen: Vera Menchik und Sultan Khan.

Über den Mann aus Britisch-Indien, der wie ein Komet aus dem Nichts am Schachhimmel auftauchte und nach wenigen Jahre genau so plötzlich wieder verschwand, hat Daniel King kürzlich eine Biographie vorgelegt, die Stefan Löffler unter Berücksichtigung der jüngsten Rückmeldung der Familie Khans kritisch bespricht.

Nicht jeder Weltmeister fand sein Glück im Herzen des Empires. Für Emanuel Lasker war die Stadt mehrfach in seinem Leben Zufluchtsort. Richard Forster, Mit­heraus­geber des gerade erschienenen zweiten Bandes der englischsprachigen Lasker-­Trilogie, schildert anhand Laskers unveröffentlichter Briefe an seine Frau Martha die ökonomisch desparate Lage des Ex-Weltmeisters im Londoner Exil 1933, wo er nach seiner Flucht aus Deutschland vergeblich versuchte, neue Geldquellen aufzutun.

Harry Schaack