WANDLER ZWISCHEN DEN WELTEN
Eigentlich hat Wolfgang Unzicker zwei Berufe: Jurist und Schachspieler. Er will sich nie für einen entscheiden – und dafür den anderen aufgeben. 25 Jahre lang ist der Richter der Führungsspieler und das Aushängeschild des westdeutschen Schachs. Ein Amateur, der es bis in die Weltspitze bringt. Da ist es nicht immer einfach, berufliche und sportliche Karriere mit der Familie zu verbinden. Viel Disziplin ist dazu nötig.
Von Harry Schaack
(Der Text ist folgend auszugsweise wiedergegeben.
Den ganzen Artikel lesen Sie in KARL 2/07.)
Mainz 2005: Wolfgang Unzicker fightet auf der Bühne gegen den früheren Weltmeister Anatoli Karpow. Der Altersunterschied von 26 Jahren ist dem Spiel nicht anzumerken. Im Gegenteil. Der Grandseigneur des deutschen Schachs versteht es, in der Schnellpartie einen Vorteil herauszuarbeiten, der sich schließlich in einem Bauern materialisiert. Im Endspiel steht er klar besser, vielleicht auf Gewinn. Doch die technische Realisierung ist noch weit und die Zeit knapp. Unzicker willigt schließlich in das Remis ein. Trotz seiner 80 Jahre ist er selbst für ehemalige Weltmeister noch ein schwerer Gegner.
Das anlässlich seines Geburtstages veranstaltete Turnier der Mainzer Chess Classic mit Boris Spasski, Anatoli Karpow und Viktor Kortschnoi ist das letzte öffentliche schachliche Auftreten des Mannes, der das bundesrepublikanische Schach ein Vierteljahrhundert dominiert hat. Es ist der Schlusspunkt einer Karriere, die die Brücke schlägt zwischen einer fernen Vergangenheit, in der Siegbert Tarrasch und Alexander Aljechin die Bezugspunkte der schachinteressierten Öffentlichkeit sind, und der modernen Zeit, die von Computern dominiert wird.
KINDHEIT
1919, kurz nach dem Ersten Weltkrieg, wird der Münchner Lehrer Eugen Unzicker nach Pirmasens versetzt. In der pfälzischen Stadt der Schuhmacher kommen die beiden Söhne zur Welt: 1921 Gerhard, am 26. Juni 1925 Wolfgang. Eugen ist verheiratet mit einer Nördlinger Kaufmannstochter, die aus einer angesehenen Familie aus dem Schwäbischen stammt. Der Lebensstil der Familie ist von bürgerlichen Verhältnissen geprägt.
1931 ziehen die Unzickers zurück nach München, in ihre alte Heimat, wo sie ein Haus besitzen. 1910 errichtet, war es das erste Gebäude in der Gegend. Damals noch auf der freien Wiese, in Obermenzing, das erst 1938 von der bayerischen Kapitale eingemeindet wird. Es steht noch heute auf dem Grundstück, auf dem Wolfgang Unzicker später selbst bauen und sein ganzes Leben wohnen wird.
In München arbeitet der Vater als Lehrer am Theresiengymnasium im heutigen Klinikviertel. Nach der Grundschule in Obermenzing wird Wolfgang ebendort Schüler. Das bedeutet eine Stunde Fußmarsch, jeden Tag.
Eugen Unzicker ist eine klassische Lehrerpersönlichkeit damaliger Zeit. Mit festen Prinzipien geharnischt, genießt er den Ruf eines sehr strengen Pädagogen. Und er will sich keinesfalls vorwerfen lassen, mit seinen eigenen Söhnen nachsichtiger zu sein als mit seinen Schülern. Eugen Unzicker „lebt“ Autorität – und neigt zum Jähzorn. Die Erfahrungen mit seinem Vater sind es wohl, die Wolfgang später von autoritärer Haltung gegen seine eigenen Kinder Abstand nehmen lassen. Er verehrt seinen Vater und akzeptiert ihn als Respektperson. Zugleich von der Mutter als ‚zartes Kind’ eher überbehütet, leidet er aber zunehmend darunter, sich nicht entfalten zu können. Doch plötzlich ergibt sich unverhofft für ihn eine Gelegenheit, die Enge der autoritären Omnipotenz seines Vaters zu durchbrechen. Im Sommer 1935 ereignet sich eine für Wolfgangs Leben prägende Begebenheit: Mit zehn Jahren lernt er Schach. In seinen unveröffentlichten Memoiren hat er den Moment mit seinen eigenen Worten festgehalten:
„Die großen Ferien 1935 waren für mein Leben eine Zeit von entscheidender Bedeutung. In diesen Tagen lernte ich Schach spielen. Der Anlass war der Besuch der beiden jüngeren Söhne der Familie Heinz aus Pirmasens […]. Walter und Hans spielten mit Vater und Gerhard Schach. Der einzige, der es nicht konnte, war ich.
Es bedurfte keiner großen Überredungskünste, Vater dazu zu bringen, mir die Spielregeln beizubringen. Damit begann ein neuer Abschnitt in meinem Leben.“
Und weiter: „Vater und Gerhard erklärten mir die Brettnummern, sodass ich an Hand von Schachbüchern, Schachzeitungen und Schachecken in Tageszeitungen Meisterpartien nachspielen konnte, was in den nächsten Monaten und Jahren meine liebste Freizeitbeschäftigung gewesen ist. So lernte ich die Namen der berühmten Meister kennen und erlangte dadurch auch die meisten Schacheröffnungen. Vater gab mir in den ersten Wochen noch die Dame, später einen Turm, nach etwa einem halben Jahr nur noch einen Bauern vor. Ab Sommer 1936 ließ ich mir aber nichts mehr vorgeben. 1936 war ich aber doch noch etwas schwächer als Vater. Gerhard und ich waren ungefähr gleich. Im Dezember 1935 machten wir einen Wettkampf auf 30 Partien, den Gerhard mit 15,5-14,5 gewann. Mit den dreißig Partien imitierten wir den Wettkampf Aljechin – Euwe 1935. Weil ich nach der 28. Partie führte und die beiden letzten Partien verlor, war ich recht untröstlich. Da sprach Vater ein Machtwort. ‚Jetzt machen wir eine Schachpause mit einem kräftigen Spaziergang.’ Zu mir gewendet sagte er: ‚Gerade Du brauchst frische Luft.’ Es war schon dunkel, wir marschierten aber trotzdem zunächst am Kanal entlang nach Pasing und kamen bis nach Gräfeling. Da lernte ich erstmals den Wert eines Fußmarsches […] kennen. Als wir wieder daheim waren, war von der Betrübnis über den „verlorenen Wettkampf“ keine Spur mehr da.“
Alles Schachliche, was er in dieser Zeit in die Hände bekommt, saugt er in sich auf. Schnell ist Wolfgang fasziniert von Siegbert Tarrasch, eine Wertschätzung, die auch später ungetrübt bleiben wird. Dessen Schachzeitung wird ihm die liebste Lektüre. Sein Vater lernt den „Nürnberger Doktor“, wie Tarrasch damals genannt wird, noch persönlich kennen, wechselt sogar einige freie Partien mit ihm. (s. hierzu: Wolfgang Kamm, Siegbert Tarrasch. Leben und Werk, München: Fruth 2004, S.725ff. [folgend zitiert als Kamm]).
Eugen ist schachbegeistert und freut sich, dass sein Sohn einen ähnlichen Elan an den Tag legt. Für den kleinen Wolfgang dagegen eröffnet das Schachspiel nun die Möglichkeit, sich fast unmerklich gegen seinen Vater zu stellen, sich gegen ihn zu behaupten. Im Spiel ist es erlaubt, zu gewinnen. Das Schachspielen ist für ihn die Gelegenheit, aus dem gestrengen Elternhaus auszubrechen und den zuweilen aufbrausenden Vater ganz sanft zu bezwingen. Mehr und mehr flüchtet er auf diese „Insel“. Wann immer er Zeit hat, investiert er seine ganze Energie, um die Zusammenhänge des Spiels tiefer zu verstehen. Und die schlimmste Strafe ist, wenn ihm sein Vater das Schachspielen verbietet. Das Schach wird der Freiraum, in dem er sich außerhalb der starken familiären Autoritätsstruktur entwickeln kann, sein eigener Bereich, in dem er gegenüber seinem Vater autonom ist.
Vielleicht hat ihn das Schach sogar vor Schäden bewahrt, die eine so strenge Erziehung bei manch anderem hinterlassen hätte. Das Schach ist für Unzicker in jenen Jahren weit mehr als eine kurzweilige Liebelei. Im Gegenteil: Es ist essentiell für sein Menschwerden. Diese existentielle Verbindung zum Schach macht den Unterschied zu anderen Spielern jener Zeit. Hier liegt ein Grund für die Bedingungslosigkeit, mit der er sich später der Materie widmen wird.
Wolfgang macht rasch Fortschritte und gehört bald zu den besten Jugendspielern Deutschlands. Hilfreich für seinen schnellen Aufstieg ist zweifellos sein phänomenales, fast schon fotografisches Gedächtnis. Schon nach dem ersten Lesen vergisst er kaum etwas. Abgespeichert für alle Zeit in der Bibliothek der individuellen Erinnerung (Zu Unzickers erstaunlichen Memorierungsfähigkeiten s. a. Kamm, S.725ff.).
Vor Kriegsbeginn, 1939, wird er zur Jugendschachwoche nach Fürstenwalde eingeladen. Ein Sichtungsturnier, organisiert vom Großdeutschen Schachbund, bei dem die Nachwuchstalente aus ganz Deutschland zusammengeführt werden. Dort trifft er erstmals auf den ein Jahr älteren Klaus Junge, der schon damals als größtes deutsches Talent gilt. Unzicker muss gleich in der ersten Runde gegen ihn antreten – und gewinnt. Spätestens hier liegt der Beginn seiner vielversprechenden Karriere. In seiner unvergleichlichen Bescheidenheit wird er später davon sprechen, dass die Spanische Eröffnung befohlen war, in der sein Kontrahent nur wenig Erfahrung hatte. „Als drei Tage später Sizilianisch als Eröffnung vorgeschrieben war, musste ich sehen, dass mir Klaus Junge an strategischer Reife und Besonnenheit der Spielführung klar überlegen war.“ (Weltgeschichte des Schachs, Hrsg. v. Eduard Wildhagen, Band 24, Hamburg 1962 [folgend zitiert als WdS], Meine Schachlaufbahn, ohne Seitenangabe.)
KRIEGSJAHRE
Unzicker wird eine steile Karriere vorausgesagt. Doch noch bevor sie richtig anfängt, kommt sie durch die Zäsur der Geschichte ins stocken.
Sein Vater steht dem Nationalsozialismus sehr skeptisch gegenüber. Er ist Mitglied bei der SPD, ein gestandener Sozialdemokrat. Mit Sorge beobachtet er die politischen Entwicklungen der dreißiger Jahre, in denen sich die Zeichen
mehren, die bereits unmissverständlich die dunkelste Epoche der deutschen Historie ankündigen. Zu den Ereignissen vom 9. auf den 10. November 1938 notiert Wolfgang später: „Diese abscheuliche Tat [gemeint ist das Attentat des polnischen Juden Herschel Grynszpan, der in der Deutschen Botschaft in Paris Ernst Eduard vom Rath erschoss, weil seine Familie aus Deutschland ausgewiesen wurde. H.S.] war für Goebbels aber ein willkommener Vorwand, eine ‚spontane Empörung des deutschen Volkes’ zu organisieren, die später als ‚Reichskristallnacht’ in die Geschichte einging.
Vater war über die brutalen, abstoßenden Ausschreitungen so entsetzt, dass er ausrief: ‚Da schämt man sich, ein Deutscher zu sein.’ Er kaufte in diesen Tagen holländische Zeitungen, in denen man ausführliche Berichte über das doppelrundige AVRO-Turnier [lesen konnte]. Aus den holländischen Zeitschriften sind mir noch folgende Überschriften in Erinnerung: ‚Der antisemitische Terror in Deutschland’, ‚Barbarische Manieren’, ‚Ein großer Teil des deutschen Volkes schämt sich tief’. In den nächsten Tagen waren holländische Zeitungen nicht mehr zu bekommen. Erst nach einiger Zeit konnten wir sie wieder kaufen.“ (zitiert aus Unzickers unveröffentlichten Memoiren).
Hitlerjugend und Reichsarbeitsdienst durchlebt er ungern. Der schmächtige, noch lange kindlich wirkende Wolfgang ist alles andere als durchtrainiert, im Handwerklichen eher ungeschickt. Zeitlebens behält er einen Widerwillen gegen den derben Umgangston, in dem er oft Hänseleien ausgesetzt ist.
Obwohl Vater Eugen nie Illusionen über die Sinnlosigkeit des Krieges hatte, rät er beiden Söhnen zur Offizierslaufbahn: ‚Da hast Du es doch besser!’ Anders als sein Bruder Gerhard widersetzt sich Wolfgang nicht, wohl weil ihm ein intellektuelles Umfeld mehr liegt als der raue Umgang in der Mannschaft. Zudem ist er auch zu dieser Zeit noch naiver und sieht den Krieg unter militär-strategischer Perspektive, während Vater und Bruder die harte Wirklichkeit schon kennengelernt haben. Er macht seine Grundausbildung in Hagenau, erkrankt jedoch nach einer Angina an Gelenkrheumatismus. Durch eine falsche medikamentöse Behandlung schleicht sich ein weit größerer Schaden ein. Als Unzicker später zur entscheidenden Musterung erscheint, horcht ihn der Arzt ab. Er stellt einen Herzfehler fest, so schwer, dass er zu einem Zeitpunkt, als das Nazireich seine letzten Reserven mobilisiert, ausgemustert wird. „Naa, der taugt nix“, soll der Arzt damals gesagt haben. Die Ausmusterung ist ein Glück für Unzicker, das er erst später zu schätzen weiß.
Im August 1944 ist seine Militärlaufbahn endgültig zu Ende. Die Ärzte prophezeien ihm ein kurzes Leben. Doch er bekommt seine Herzschwäche in den Griff. Viel Disziplin ist dazu nötig. Sein Leben lang wird er die Finger von Zigaretten lassen, keinen Kaffee und nur zu ganz besonderen Anlässen einmal einen Schluck Alkohol trinken. Außerdem bewegt er sich viel, macht regelmäßig Morgengymnastik, Wanderungen, Radtouren. Vielleicht lehrt ihn nicht zuletzt auch seine gesundheitliche Indisposition jene Disziplin, die später nötig ist, um beruflich wie schachlich überaus erfolgreich zu sein.
Im folgenden Jahr trifft ihn das Schicksal mit voller Wucht, verursacht durch den Krieg, der für ihn fast schon vorbei schien: der geliebte Bruder Gerhard kommt ums Leben, als seine Einheit aus der Luft angegriffen wird. Als Vater Eugen am 1. März 1945 die Todesnachricht bei der Gartenarbeit überbracht wird, schlägt er mit dem Beil in einen Holzblock und ruft: ‚Das hat der Sauhund [Hitler] auch noch fertiggebracht!’ Um seine Frau zu schonen, teilt Eugen den Tod der Familie erst am nächsten Morgen mit. Der Schmerz über diesen Verlust wird Wolfgang sein Leben lang begleiten.
Auch der deutsche Schachstar jener Zeit, der von Unzicker bewunderte Klaus Junge, fällt wenige Tage vor Kriegsende.
Während der Wirren des Zweiten Weltkriegs kann sich Unzicker schachlich noch nicht profilieren. Die Schachszene liegt weitgehend brach und zu den wenigen Turnieren erhält er noch keine Einladungen. Aber 1941 nimmt er an einer Simultanvorstellung Alexander Aljechins teil. Unzicker verliert gegen den damaligen Weltmeister, der darauf achtet, dass der talentierte Nachwuchs gleich weiß, mit wem er es zu tun hat. Ein schwieriges Turmendspiel kann der 16-Jährige nicht halten.