EDITORIAL
LIEBE LESER,
in einer rein logischen Welt, die das Schachspiel repräsentiert, scheint es keinen Platz für Zufälle zu geben. Der Schwerpunkt des vorliegenden Heftes wird daher einige unserer Leser verwirren. Was ist eigentlich ein Zufall? Wissenschaftlich betrachtet handelt es sich um eine Begebenheit, deren Kausalität sich für den Betrachter aufgrund ihrer Komplexität nicht erschließt. Insofern ist das Schachspiel nun wiederum ausgezeichnet für Zufälle geeignet, denn bekanntlich übersteigen die Zugmöglichkeiten gar die Anzahl der Atome im Weltall.
Als Benchmark der Rationalität wird gerne die Programmierung und ihre Grundlage, die Mathematik, herangezogen. Der Zusammenhang zwischen Zufall und Programmierung ist jedoch enger als man glauben mag. Der Computerexperte Chrilly Donninger, der mit seinem selbst kreierten Monster Hydra Großmeister verschlingt, zeigt, wie ein Programm quasi aus dem Nichts durch rein zufällige Suche Wissen generieren kann. Durch die Arbeit an seinem KARL-Artikel ist er auf die Idee gekommen, bei der Programmierung seines Schachcomputers tatsächlich einen Zufallsterm in die Bewertung miteinzubauen. Die ersten Versuche sind angeblich vielversprechend.
Ernst Strouhals Essay beschäftigt sich mit der Akzeptanz des Schachspiels – im Gegensatz zu Glücksspielen – seit der Aufklärung. Auf dem Hintergrund eines unfehlbaren Schöpfungsgedankens wurde das Brettspiel gleichzeitig ein Prüffeld für die Negierung des Zufalls durch die Religion. Er zeigt aber auch, wie das Schachspiel zur Demut erziehen kann, die den Zufall aufgrund unserer Beschränktheit als geschichtliche Normalität akzeptiert und die Vernunft mit menschlichem, und nicht mit göttlichem Maß misst.
Michael Negele zeichnet den Lebenslauf des Künstlers François Le Lionnais nach. Das französische Multitalent war in der Lage, alles mit allem so eng zu verbinden, dass schließlich Ursache und Wirkung zusammenfielen, mithin der Zufall keine „Chance“ bekam.
Auf jedem menschlichen Lebensweg treffen der individuelle Gestaltungswille und zufällige Begebenheiten aufeinander. Anhand populärer Ereignisse wird nachvollziehbar, wie Kleinigkeiten eine ungeheure Wirkung entfalten können. Auf welch wundersame Art die Dinge eine ganz eigene Wendung bekommen, zeigen ein Versehen aus Emanuel Laskers Frühzeit und zwei Zufälle, die das Match zwischen Short und Speelman von 1988 entschieden.
Die jedes Jahr aufs Neue in Mainz bei den Chess Classic popularisierte Spielform des Chess960 hat dagegen den Zufall von vornherein eingebaut. Alles hängt von der Anfangsaufstellung ab. Eine der wichtigsten Errungenschaften des modernen Schachspielers, die Eröffnungskenntnis, wird damit hinfällig.
Passend zum Schwerpunkt spricht der Organisator der Chess Classic und der leidenschaftlichste Promotor für das Chess960 im Porträt über Führungsqualitäten, seinen Ehrgeiz und seine Visionen.
Bedauerlicherweise beendet Ulrich Stock aus beruflichen Gründen seine feste Rubrik, die mit Beginn unserer Zeitschrift nun über fünf Jahre erschien. Seine Mitarbeit wird sich künftig auf gelegentliche Beiträge beschränken. Für ihn ist nun ein anderer ZEIT-Redakteur eingesprungen. Wolfram Runkel, der seit seiner Pensionierung als freier Journalist arbeitet und schon früher einmal für uns geschrieben hat, wird nun regelmäßig für KARL glossieren.
Harry Schaack