JENSEITS DER SCHACHPRAXIS

Von Harry Schaack

Schachpartie -Durch Zeiten und Welten Cover

Schachpartie –
Durch Zeiten und Welten,
hrsg. v. Hans und Barbara Holländer,
Heidelberg: Edition Braus im Wachter-Verlag 2005,
gebunden, 368 S.
mit zahlreichen farbigen Abb.,
69,90 Euro

(Das Rezensionsexemplar wurde freundlicherweise von der Edition Braus GmbH im Wachter-Verlag zur Verfügung gestellt.)

Anlässlich seines 175jährigen Jubiläums hatte sich der Hamburger Schachklub viel vorgenommen: Eine Ausstellung im renommierten Museum für Kunst und Gewerbe sollte nicht weniger als die gesamte Schachgeschichte repräsentieren. Mittlerweile ist Schachpartie – Durch Zeiten und Welten eröffnet und selbst Kenner behaupten, es sei die bislang umfassendste Darstellung ihrer Art. Zahlreiche Leihgeber aus dem Bundesgebiet, darunter neben Museen und Galerien mehrere private Sammler, und nicht zuletzt das Engagement des Ausstellungsmachers Hans Krieger, haben einen einzigartigen Einblick in die Kulturgeschichte des Schachspiels ermöglicht.

Mit dem Kunstwissenschaftler Hans Holländer und seiner Frau Barbara stehen der Schachgemeinde seit Jahren zwei wertvolle Helfer zur Seite. Schon mehrfach sind sie als Kuratoren aufgetreten. Der nun von beiden vorgelegte Begleitkatalog zur Ausstellung ist Dank der Sachkenntnis und Eloquenz der Autoren zweifellos ein Standardwerk.

Beginnend mit einem Ausflug in die Schachgeschichtsforschung hin zu den Ursprüngen des Schachspiels, bildet die Dokumentation und Klassifizierung der Schachspiele den Hauptteil. Vom frühen Mittelalter bis zu den Produktionen der Künstler der Moderne und zeitgenössischen Entwürfen werden elf Jahrhunderte ausgemessen. Anhand von Schachspielen, -brettern und -figuren erhält der Leser einen phantastischen Überblick über Entwicklung des Kunsthandwerkes. Zahlreiche Abbildungen dokumentieren die vielfältigen Spielarten der Kreationen und den Einfallsreichtum der Handwerker.

Die frühesten in der Ausstellung zu sehenden Funde stammen aus dem 9. Jahrhundert und sind wichtige Bestandteile für die Ursprungsbestimmung des Spiels. Seit dem Mittelalter rücken auch Illustrationen in Büchern und Handschriften sowie spätestens seit dem 16. Jahrhundert zunehmend Gemälde in den Vordergrund, die nicht selten dort, wo die eigentlichen Spiele fehlen, wichtige Hinweise zu Spielart als auch zu gesellschaftlicher Funktion des Schachs geben.

Gegliedert ist die Darstellung nach den Jahrhunderten, wobei den bedeutenden Produktionsorten mit ihren Handelswegen eigene Kapitel gewidmet sind. Spezifische Fertigungsmerkmale machen den Herkunftsort eines Spiels für den Kenner unverwechselbar. Im 17. Jahrhundert waren die Holzbretter mit den filigranen Intarsienarbeiten aus Eger. Die nordfranzösische Hafenstadt Dieppe ist für ihre subtil gestalteten Elfenbeinschnitzereien aus dem 17. und 18. Jahrhundert bekannt. Zur selben Zeit entwickelte sich im deutschen Geisslingen ein Handwerk auf hohem technischen Niveau, dessen charakteristisches Merkmal die Darstellung des Springers als Seepferdchen ist. Und im Ostseeraum ist der Bernstein unverwechselbares Markenzeichen der Gestaltungskunst.

Mit den Besonderheiten der Porzellan-Schachspiele hat sich der Ausstellungsmacher Hans Krieger, einer der besten Kenner auf diesem Gebiet, in einem eigenen Kapitel beschäftigt. Bald nach der Erfindung des deutschen Hartporzellans im Jahre 1708 durch Johann Friedrich Böttger gründete August der Starke in Meissen die erste Porzellanmanufaktur Europas. Schon 1718 versprach Böttger seinem König ein Schachspiel, das heute allerdings nur noch fragmentarische erhalten ist. Die zarte und harmonische Farbigkeit der Schachbretter des 18. Jahrhunderts, die rasch zum Sortiment der Manufaktur gehörten, kann von heutigen Nachbildungen nicht mehr erreicht werden.

Neben der Entwicklung spezieller Figurengruppen für spielbare Bretter – wie dem Regence-Figurensatz, der im 19. Jahrhundert mit den Stauntonfiguren konkurrierte – erfreuten sich seit jeher rein dekorative Spiele mit äußerst zerbrechliche Figuren oder solchen aus wertvollsten Materialien größter Beliebtheit. In der Zeit des Historismus nahm die Darstellung geschichtlicher Ereignisse bzw. Persönlichkeiten zu. Da stehen sich schon mal der Preußenkönig und Napoleon auf dem Brett gegenüberstehen.

Das Schachspiel des 20. Jahrhundert fand mit dem Bauhaus und den Künstlern der Moderne wie Marcel Duchamp, Man Ray oder auch Vasarely seine bekanntesten Gestalter. Arnold Schönberg erfand mit seinem Koalitionsschach gar eine eigene Spielart mit neu kreierten Figuren. Und in der modernen Literatur sind mit Stefan Zweigs Schachnovelle und Wladimir Nabokows Lushins Verteidigung Romane von Weltrang entstanden, in denen dem Schachspiel eine handlungstragende Rolle zufällt. Bis heute bleibt Schach ein beliebtes Sujet in der zeitgenössische Kunst.

Die kunsthistorische Darstellung wird am Ende des Katalogs durch einen knappen Überblick über die Schachliteratur vom Mittelalter bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Egbert Meissenburg ergänzt. Anhand der bibliographischen Beschreibung skizziert er gleichzeitig die Fortentwicklung des Schachs und zeigt Diskurse auf, die letztlich zu Veränderungen des Regelwerkes führten.

Manches Werk konnte seine Wirkung erst lange nach seinem Erscheinen entfalten. So blieb das Alfonsinische Schachbuch ohne Einfluss auf seine Zeitgenossen, da es Phillip II. in der Bibliothek zu Escoreal „begrub“ und für die Forschung erst wieder seit dem späten 19. Jahrhundert zugänglich war.

Der Zeitraum zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert gilt als Dürre hinsichtlich der schachlichen Literaturgeschichte. Erst Philidor konnte die „schriftstellerische Ohnmacht“ beenden. Die „Entdeckung“ des Mittelspiels als Gegenstand einer theoretischen Darlegung durch von der Lasa, sowie die reiche Literatur zum Schachautomaten sind gleichermaßen Gegenstand des Textes. Zuweilen wird auch die Editionsgeschichte einer Publikation fokussiert, wie bei Bilguers Handbuch des Schachspiels, das als „enzyklopädisches Großprojekt und Gemeinschaftswerk für Schachgeschichte, Eröffnung und Endspieltheorie“ in mehreren Auflagen über ein Jahrhundert fortgeschrieben wurde.

Schließlich wirft Meissenburg einen kurzen Blick auf die Schachgeschichtsforschung, die mit Thomas Hydes Historia Shahiludii einen Wendepunkt erfuhr, da der Engländer erstmals die alten Texte im Original lesen konnte.

Der informationsreichen Darstellung ist eine Bibliographie der wichtigsten Schachliteratur mit wertvollen Kurzbeschreibungen angehängt.

Schachpartie – Durch Zeiten und Welten
gibt den bislang umfassendsten Überblick über die Schachgeschichte aus kulturhistorischer Sicht. In Kunsthandwerk, Gemälden und Literatur zeigt sich Schach von einer reichen Seite jenseits des Turnierspiels. Für den Schachliebhaber, für den sich das Spiel nicht in schachpraktischen Aspekten erschöpft, ist dieser hervorragend verarbeitete Katalog mit einem überzeugenden Layout und zahlreichen brillanten Abbildungen unentbehrlich.