DUELL MIT VERBUNDENEN AUGEN

Kurze Erinnerung an den ersten Blindwettkampf

Von Michael Ehn und Ernst Strouhal

Mieses-Karikatur von Oliver Schopf
Jacques Mieses (Grafik von Oliver Schopf)

Wenn alljährlich beim Amber Turnier auf allgemeinen Wunsch eines einzelnen Herren – der Herr ist der holländische Schach-Mäzens Joop van Oosterom – die Elite des Schachspiels gegeneinander blind spielt, so ist das so neu nicht. Wenn wir nicht etwas krude übersehen haben, so fand der erste offizielle Blindwettkampf der Schachgeschichte zwischen zwei anerkannten Großmeistern im Jänner 1909 statt.

Auf Einladung des Stuttgarter Schachclubs zu dessen 30-jährigem Bestehen traten die beiden wohl stärksten Blindspieler der damaligen Zeit, der Wiener Carl Schlechter (1874 – 1918) und Jacques Mieses (1865 – 1954) aus Leipzig, gegeneinander an. Die Bedenkzeit betrug 15 Züge in der Stunde. Die Partien dauerten durchschnittlich je vier Stunden. Am Ende war Mieses besser
als Schlechter: Er gewann mit 2,5 – 0,5 Punkten.

Viel wissen wir nicht über dieses seltsame Duell mit verbundenen Augen. Zum Wettkampf findet sich in den Schachzeitungen nur eine kleine Notiz im Deutschen Wochenschach von 1909. Interessanter sind die Kommentare von Mieses über das Blindspielen. Für ihn war demnach eine „derartige ernste Meisterpartie anstrengender als eine ebenso lange dauernde Blindvorstellung von sechs gleichzeitigen Partien.“ (Jacques Mieses: Das Blindspielen. Eine schachpsychologisch-historische Skizze nebst einer Auswahl ohne Ansicht des Brettes gespielter Partien. Leipzig 1918.)

Das Blindsimultan fiel Mieses besonders leicht, sodass die Versuchung groß war, auf Wunsch der Veranstalter spektakuläre Simultans mit großer Teilnehmerzahl blind zu spielen: „Ich beschränke mich meist auf fünf oder sechs gleichzeitige Partien, und nur einige Male habe ich, auf besonderen Wunsch der Veranstalter, acht Partien gespielt. Die Leichtigkeit, mit der ich diese durchführte, war mir ein beruhigendes Zeichen dafür, dass ich damit noch lange nicht an die Grenze meiner Leistungsfähigkeit gegangen war, und ich glaube wohl, dass ich zwölf bis fünfzehn, vielleicht auch mehr Partien bewältigen würde, wenn es sein müsste.“

Offenbar bewahrt das Blindsimultan seine seltsame Anziehungskraft noch bis ins 21. Jahrhundert. Bis heute begeistert die Tatsache, dass erfahrene Schachspieler in der Lage sind, die kinetische Energie der Figuren ohne Visualisierung zu kontrollieren, viele Laien. Hand in Hand mit dieser Fähigkeit (die so unerklärlich ja nicht ist) gehen stets die Warnungen vor gesundheitlichen Schäden. Diderot warnte bekanntlich Philidor vor dem gefährlichen Spektakel und vielleicht liegt in der Gefahr auch die Magie: Ein kalkuliertes Risiko, das doch – wie die Entfesselungstricks Houdinis – unkalkulierbar bleibt. Auch Mieses weist auf die Gefahren hin, denn: „ Ich habe keine Lust, auf Kosten meiner Gesundheit Sensation zu erregen. Vorstellungen, die länger als vier Stunden dauern, empfinde auch ich bereits als übermäßige einseitige Anstrengung des Gehirns.“

Das Problem ist nicht nur, wie man es schafft, sondern auch was man nach dem Blindspiel macht, um die überladenen Synapsen wieder zur Ruhe zu bringen, ohne einen zerebralen Muskelkater zu erleiden. Auch hier hat der weise Mieses einen Rat für uns parat: „Selbst nach einem Blindspiel von kürzerer Dauer habe ich das Bedürfnis nach Zerstreuung und Erholung. Für ganz falsch erkläre ich es, sofort nachher zu Bett zu gehen, denn der Schlaf würde ein unruhiger, durch wirre, traumhafte Schachphantasien gestörter sein. Einige Stunden angenehmer Geselligkeit sind mir nach jeder Blindvorstellung sehr erwünscht und dazu, als conditio sine qua non, Alkoholgenuß – nicht im Übermaß, aber doch etwas mehr als gewöhnlich. Ja, ich gehe sogar so weit, in diesem Falle den Alkohol wegen seiner beruhigenden, ausgleichenden Wirkung auf das Gehirn geradezu als eine spezifische Medizin zu bezeichnen.“

Manche befolgen den medizinischen Rat bekanntlich gerne und lassen dabei sicherheitshalber das anstrengende Blindsimultan gleich wegfallen. Ein Prost den Faulen, doch Schlechter und Mieses erledigten vorher noch ihre Arbeit:

SCHLECHTER
MIESES

Stuttgart 13. 1. 1909, 1. Wettkampfpartie

1.e4 d5 2.exd5 Dxd5 3.Sc3 Da5 4.Lc4 Sf6 5.d4 Sc6 6.Sge2 Lf5 7.Ld2 Db4 Gewinnt durch den Angriff auf den Lc4 Zeit und verhindert Sc3-d5. 8.b3 Hässlich aber notwendig. 8…e5?! Ausgleich war mit 8…Dd6 9.Sb5 Dd7 zu erreichen. 9.Sb5 De7 10.d5 Sd4 11.d6 Opfert den unhaltbaren Bauern, um die d-Linie zu sperren. 11…cxd6 12.Sbxd4 exd4 13.0-0 d5 Auch nach 13…0-0-0 14.La5 Te8 15.Sxd4 bleibt Weiß in Vorteil. 14.Lb5+?! Einfach 14.Sxd4 bewahrte den Vorteil. 14…Ld7 15.Sxd4 0-0-0 16.Lf4 Se4 17.Te1 Noch besser sieht 17.c4!? Df6 18.Le3 aus. 17…Lxb5 Hier kommt 17…Df6 18.Le3 Lb4 stark in Betracht. 18.Sxb5 Dc5 19.Sd4 Ld6 20.Lxd6 Zu überlegen war 20.Le3. 20…Txd6?! Klarer war 20…Dxd6 21.Dd3 The8, denn 21.Dg4+ Dd7 22.Dxg7? scheitert an 22…Thg8 23.De5 Txg2+! 24.Kxg2 Dg4+ nebst Matt. 21.Dg4+ Denn nun ist der Bauerngewinn sehr wohl möglich. 21…Td7 22.Dxg7 Te8 23.Tad1 f5 Auf 23…Tde7 folgt natürlich 24.Te3. 24.Dh6 Tde7 25.Te3 Sc3 Bereitet dem Gegner Probleme, wo er nur kann. 26.Tde1?! Sicherer scheint 26.Tdd3 Txe3 27.Txe3 Txe3 28.fxe3 (nicht 28.Dxe3?? Dxd4 29.Dxd4 Se2+).

26…Dxd4!Eine Überraschung! 27.Txe7 Se2+! 28.T7xe2 Denn 28.T1xe2?? Dd1+ wird matt. 28…Txe2 29.Txe2?? Ein schrecklicher, aber typischer Fehler des „blinden“ Weißen. Nach 29.Tf1 Txc2 30.Df8+ nebst Dxf5 oder 30.Dxh7 ist der Ausgang ungewiss. 29…Dd1+ nebst Matt, daher 0-1

MIESES
SCHLECHTER

Stuttgart 14. 1. 1909, 2. Wettkampfpartie

1.e4 e5 2.d4 exd4 3.c3 Neben Skandinavisch eine weitere Spezialität
des Leipzigers: das nordische Gambit. 3…dxc3 4.Lc4 Sf6 Auch nach dem gefräßigen 4…cxb2 5.Lxb2 Sf6 6.e5 d5! 7.exf6 dxc4 8.Dxd8+ Kxd8 9.fxg7 Lb4+ 10.Sc3 Tg8 hat Schwarz keine Probleme. 5.Sxc3 Sc6 6.Sf3 Lb4 7.0-0 0-0 8.e5 Lxc3 9.bxc3

9…d5! Stärker als 9…Se4?! 10.Dd5 Sxc3 11.Dd3 Sa4 12.Sg5 g6 13.Sxf7 (oder 13.Se4) 13…Txf7 14.Lxf7+ Kxf7 15.Db3+ mit großem weißen Vorteil. 10.exf6 dxc4 11.fxg7 Kxg7 12.Sd4 Sxd4 13.cxd4 Te8! Schwarz kommt dem Weißen in der Besetzung der e-Linie zuvor und steht schon etwas besser. 14.d5 Df6 15.Le3 Dg6 16.Tc1 Lh3 Dieser kleine taktische Trick rettet das Leben des c-Bauern. 17.Df3 Lg4 18.Dg3 Le2 19.Tfe1 Dxg3 20.hxg3 Ld3 Im Endspiel mit ungleichen Läufern kann Schwarz noch immer auf Vorteil hoffen. 21.Lf4 Txe1+ 22.Txe1 Td8 23.Te7 Txd5 24.Txc7 Ta5 25.Txb7 Txa2 26.g4 Kf6 27.Le3 a5 28.f4 Txg2+?! Nach Turmtausch ist die Partie tot remis, aussichtsreicher war daher 28…Le4. 29.Kxg2 Le4+ 30.Kf2 Lxb7 31.Ld4+ Ke6 32.Ke3 f5 33.g5 Kd5 34.Lc3 a4 35.Lb4 La6 36.Lc3 a3 37.Lb4 a2 38.Lc3 Lb5 39.Ld4 remis

SCHLECHTER
MIESES

Stuttgart 15. 1. 1909, 3. Wettkampfpartie

1.e4 d5 2.exd5 Dxd5 3.d4 Sf6 Schärfer war 3…e5 4.Sf3 (4.dxe5?! Dxd1+ 5.Kxd1 Sc6 kommt kaum in Frage) 4…Sc6 5.Le3 Lg4 6.Le2 exd4 7.Sc3 Dh5 mit Ausgleich. 4.Sc3 Da5 5.Sf3 Sc6 6.Ld2 Lg4 7.Sb5 Db6 8.a4?! Gegen diesen gefahrdrohenden Zug hat Schwarz eine feine Parade in Petto. (M) Einen kleinen Vorteil behält Weiß nach 8.c4!? Lxf3 9.Dxf3 Sxd4 10.Sxd4 Dxd4 11.Dxb7 De4+ 12.Dxe4 Sxe4 13.Le3. 8…Lxf3 9.Dxf3 a6! Nun ginge 9…Sxd4? wegen 10.Sxd4 Dxd4 11.Dxb7 nicht. 10.a5? 10.d5 hätte die Niederlage vermieden: 10…Se5 11.Df4 axb5 12.Dxe5 bxa4 13.Le2

10… axb5! Für die Dame erhält Schwarz reichlichst Kompensation. 11.axb6 Txa1+ 12.Lc1 Erzwungen, da 12.Ke2 wegen 12…Sxd4+ nicht geschehen kann. (M) 12…Txc1+ 13.Kd2 Txc2+ 14.Kd1 Der Turm darf wegen 14…Sd4+ nicht genommen werden. (M) 14…Txb2 Schwarz hat nun zwar einen Turm und zwei Figuren für die Dame, aber er ist in der Entwicklung zurückgeblieben, und er hat auch sonst noch mancherlei Schwierigkeiten zu begegnen. (M) Die klarere Linie war 14…cxb6! 15.Da3 Sxd4 16.Da8+ Kd7 17.Dxb7+ Tc7 18.Dxb6 e5 19.Lxb5+ Sxb5 20.Dxb5+ Ke6 mit schwarzer Gewinnstellung. 15.Da3?! Die letzte Chance war 15.bxc7 Kd7 16.d5. 15…Tb1+ 16.Kc2 Txf1! Mit Recht opfert Schwarz die Qualität, um den gefährlichen Läufer zu beseitigen. (M) 17.Da8+ Kd7 18.Txf1 Sd5! Es bedarf einer sehr umsichtigen Spielführung vonseiten des Nachziehenden, wenn er sein materielles Übergewicht zur Geltung bringen will. (M) Zu wenig wäre 18…Sxd4+ 19.Kb1 e5 20.bxc7 Kxc7 21.Tc1+ Sc6 22.Da5+ Kd6 23.Dxb5. 19.Dxb7 Unzureichend wäre 19.Tc1 e6 (weder 19…Sxd4+? 20.Kb1 Sxb6 21.Dxb7 noch 19…cxb6?! 20.Dxb7+ Kd6 21.Kb2 und auch nicht 19…Sxb6?! 20.Dxb7 Sb4+ 21.Kb3) 20.Kd1 Sd8! 21.bxc7 Sxc7. 19…Sxb6 Genauer war wie oben 19…e6. 20.Kb1 e6 21.Tc1 Sc4 22.Da8 Auf 22.Td1 folgt 22…Ld6. 22…g6 23.d5 exd5 24.Td1 d4 25.Txd4+ Das ist beinahe erzwungen, denn der Freibauer wird sonst sehr stark. (M) 25… Sxd4 26.Dd5+ Ld6 27.Dxd4 Te8 28.Dd5 c6 Der Gewinn ist zwar nur noch eine Frage der Zeit, die präzise Art und Weise aber, wie Schwarz ihn auf kürzestem Wege herbeiführt, macht den Schluss der Partie noch recht interessant. (M) 29.Dxf7+ Te7 30.Dg8 Te1+ 31.Kc2 Te2+ 32.Kd3 Nach 32.Kb1 folgt 32…Sa3+ 33.Kc1 Te7. 32…Txf2 33.Dxh7+ Kc8 34.Kc3 Falls 34.Dxg6?, so 34…Se5+. (M) 34…Le5+ 35.Kd3 Td2+ 36.Ke4 Td4+ 37.Kf3 b4 38.Ke2 Td2+ 39.Kf1 Oder 39.Kf3 Td5 40.Dxg6 Kc7 41.Dh7+ Kb6. 39…b3 40.Dg8+ Kc7 41.Df7+ Td7 42.Dxc4 b2 43.Db3 Td5 44.Dc2 Tc5! Das große Finale! 45.Dxc5 scheitert an 45…b1D+. 0-1

(Anmerkungen M = Mieses 1918)