HOLLÄNDISCHER SCHACHBOHÈMIEN

Von Harry Schaack

Peter Boel & Merijn van Delft,
Chess Buccaneer. The Life and Games of Manuel Bosboom,
New In Chess 2021,
Paperback, 283 S., 24,95 Euro

 (Das Rezensionsexemplar wurde freundlicherweise von der Schachversand Niggemann zur
Verfügung gestellt.)

Die Niederlande zählt zu den globalen schach­lichen Hotspots. Das Land hatte mit Euwe einen Weltmeister und FIDE-Präsidenten, mit Timman den lange Zeit besten westlichen Spieler, immer­fort neue Talente wie Jorden van Foreest, mit Wijk aan Zee eines der bedeutendsten Schach­turniere, großartige Buchautoren sowie mit New in Chess das Flaggschiff des Schach­journalismus – und nicht zuletzt eine bis heute lebendige Schachszene, in der viele Aficionados mit dem Spiel ihren Lebensunterhalt verdienen. Einer davon ist Manuel Bosboom.

Den IM, der drei GM Normen gemacht, aber nie die Elo 2500 geknackt hat, kennt in Holland jeder. Besonders als einer der besten Blitzspieler seines Landes errang Bosboom eine legendäre Reputation. Peter Boel & Merijn van Delft haben ihm mit ihrem lesenswerten Buch Chess Buccaneer ein Denkmal gesetzt.

Der Spielstil des heute 58-Jährigen ist so un­orthodox wie sein Leben. Seine romantische Schachauffassung brachte ihm viele spektakuläre Siege. Oft kam er in Zeitnot, spielte in den Eröffnungen kreative, aber gefährliche selbstentwickelte Systeme, wobei der Aufzug des h- und g-Bauern zu seinem Markenzeichen wurde. In Holland ist das Attribut „bosboomisch“ geläufig, was so viel bedeutet wie „interessant, aber suspekt“.

Das Buch beginnt mit dem Höhepunkt in Bosbooms Schachkarriere, der literarisch höchst gelungenen Schilderung des Blitzturniers in Wijk aan Zee 1999, an dem alle Weltklassespieler der A-Gruppe teilnahmen. Bosboom ersetzte den erkrankten Schirow und besiegte sensationell Kasparow, der das Turnier später unangefochten gewann. Im Laufe seines Lebens schlug Bosboom einige Weltklassespieler, darunter auch Timman und vor wenigen Jahren noch Giri. Und mit klassischer Bedenkzeit gewann er noch im Alter von 50 gegen Leko.

Bosboom stammt aus einem Künstlerhaushalt. Sein Vater war ein talentierter, aber nicht sehr erfolgreicher Maler, weshalb die Eltern sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hielten. Irgendwann kauften sie sich ein Boot und segelten monatelang um die Welt.

Bosboom entwickelte schon früh gewisse schachliche Vorlieben, wie etwa das Tandemspielen, wo er mit verschiedenen Partnern mehrfach die Landesmeisterschaft gewann. Aber vor allem wurde er ein brillanter Blitzspieler: „schnell, einfallsreich, ein großer Schwindler und ein eiskalter Killer“, wie es die Autoren zusammenfassen. Für ihn war Schach weniger Kunst oder Wissenschaft, sondern vor allem Sport. Blitzturniere waren sein Leben lang seine Haupteinnahmequelle, und im Laufe seiner Karriere hat er wahrscheinlich 50 hoch­karätige Veranstaltungen gewonnen hat.

Bosbooms Talent wurde schon früh deutlich, als er Vize-Landesmeister in der Jugend wurde und bei der Jugend-EM den 6.-7. Platz erreichte. Nach dem Abitur war Jobsuche nicht Bosbooms erste Priorität, weil er dachte, es würde seinem Schach schaden. Er realisierte bald, dass er als durchschnittlicher Profi mit Schach so viel  Geld verdienen konnte, wie er zum Leben brauchte.

1989 wurde er IM und Anfang der neunziger Jahre begann sich sein Talent zu entfalten. Gleichzeitig wurde sein Leben immer abenteuer­licher, was einen schachlichen Aufstieg ver­hinderte. Ab den späten 1990er Jahren begann Bosboom mit psychedelischen Drogen zu experimentieren. Es war üblich, dass er vor Blitzturnieren Marihuana rauchte. Und er merkte, dass „Schach eigentlich völlig nebensächlich ist, sogar ein Sieg gegen den Weltmeister“.

In den 2010er Jahren büßte Bosboom seine dominante Vorreiterposition im nationalen Blitz­schach mehr und mehr ein, wenngleich er immer noch zu den Besten gehört. Während der Pandemie seit 2020 wurde seine Lage prekär, weil es keine Turniere mehr gab und er keine Ein­nahmen mehr hatte. Als „Selbstständiger“ bekam er auch keine staatlichen Hilfen und war auf die Unterstützung von Familie und Freunden angewiesen.

Bosboom ist nicht nur ein schachlicher Freigeist. Er ist Vegetarier und wohnt in einem kleinen Häuschen neben einer alten Mühle. Und er tat immer das, was er mochte, ohne das große Geld zu verdienen. Er brauchte nie viel. Und doch war er immer bereit, sein letztes Hemd zu teilen. Seit zehn Jahren gibt er jährlich ein Benefiz-Simultan für Obdachlose.

Spielen, rauchen, trinken, Party machen – trotz mancher Entbehrungen hat Bosbaum dieses Leben nie aufgegeben. Oder wie es die Autoren formulieren: Von Bosboom kann man lernen, wie man Dinge anders machen kann – im Schach wie im Leben.